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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Häusern entlang, ohne sich einmal umzusehen, ganz wie jemand, der täglich um die gleiche Zeit den gleichen Weg macht.
      Kees folgte ihr auf der anderen Straßenseite, und war nun sicher, daß sie ihm nicht entkommen würde.
      Etwas ängstlich wurde er indessen, als sie in eine der wenigen Bars, die noch geöffnet waren, eintrat; aber er war erstaunt, als er durch die Scheibe hindurch sah, wie sie sich einen Kaffee mit Sahne bestellte und ein Hörnchen hineintunkte.
    Also hatte niemand sie zum Essen eingeladen! Sie aß mit jenem leeren Blick, den er schon öfter bei den Stammgästen solcher Lokale beobachtet hatte. Sie suchte in ihrer Handtasche, bezahlte und ging wieder, ohne noch Zeit zu verlieren.
    Er wartete, bis sie an ihrer Haustür geklingelt hatte, und
    in dem Augenblick, als die Treppenhausbeleuchtung sich einschaltete, trat er wortlos auf sie zu, worüber sie gewaltig erschrak. Sie brachte die Lippen nicht auseinander, sprach kein Wort, aber Angst stand in ihren grünen Augen, das sah er genau, noch ehe sie achselzuckend beiseite trat, um ihn vorbeizulassen.
      Der Fahrstuhl war so eng, daß sie dicht aneinander standen. Jeanne setzte ihn in Bewegung, schickte ihn wieder abwärts, suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel und stammelte schließlich:
    »Was wollen Sie denn Louis sagen?«
      Er beschränkte sich auf ein Lächeln, während er sie ansah, und sie war verwirrt, denn sie begriff, daß er Bescheid wußte, daß er ihre List durchschaut hatte. Erst beim Eintreten in die Wohnung sagte Kees leise:
    »Louis ist in Marseille!«
    »Hat Goin Ihnen das gesagt?«
    »Nein!«
      Sie hatte die Tür geschlossen und die Lampe im Flur eingeschaltet. Die Wohnung umfaßte drei Zimmer, dazu ein Bad; das Ganze reichlich antiquiert, muffig, mit Teppichen überall und viel zu viel billiger Kram, herumstehende Abendschuhe, ein Sandwich auf dem Tisch im Salon, daneben eine halbleere Flasche Wein.
    »Wozu sind Sie hergekommen?«
      Er vergewisserte sich zunächst, daß sie wirklich grüne Augen hatte, wie in seiner Erinnerung, und daß die Angst sie noch grüner erscheinen ließ.
    »Ich hätte nach der Concierge rufen können…«
    »Um was zu tun?«
      Und, als fühlte er sich ganz zu Hause, legte er seinen Mantel ab, trank einen Schluck Wein aus der Flasche und machte eine Tür auf, die ins Schlafzimmer führte. Er bemerkte, daß auf dem Nachttisch ein Telefonapparat stand, und nahm sich vor, gut auf ihn achtzugeben, aber schon hatte Jeanne Rozier seinen Blick gesehen und seinen Gedanken erraten.
      Es machte Spaß, mit ihr zu spielen, weil sie Intuition besaß, weil sie kaltes Blut bewahrte und weil sich nur kaum merklich abzeichnete, was in ihr vorging.
      »Ziehen Sie sich nicht aus?« sagte er, indem er Schlips und Kragen abnahm.
      Sie war noch in ihrem Pepita-Mantel, den sie jetzt, als füge sie sich in ihr Schicksal, von den Schultern gleiten ließ.
      »Als ich sicher war, daß Louis nach Marseille fuhr, habe ich sofort daran gedacht, das auszunutzen… Wer ist das auf dem Bild, da über dem Bett?«
    »Mein Vater.«
      »Ein schöner Mann! Zumal mit diesem fabelhaften Schnurrbart…«
      Er hatte sich auf einen niedrigen Louis-Seize-Sessel gesetzt, um seine Schuhe auszuziehen. Jeanne Rozier hingegen entkleidete sich nicht weiter. Nach ein paar Schritten hin und her pflanzte sie sich mitten im Zimmer auf und erklärte:
      »Ich nehme an, Sie wollen sich hier nicht häuslich einrichten?«
    »Doch, zumindest bis morgen früh!«
    »Ich bedauere, aber das geht nicht.«
    Sie hatte Rückgrat. Dennoch schweifte ihr Blick manchmal zu dem Telefonapparat. Er lachte nur, statt zu antworten, und zog seinen zweiten Schuh aus.
    »Haben Sie verstanden?«
      »Ich habe verstanden, aber das ist ohne Bedeutung, nicht wahr? Sie vergessen, daß wir beide schon im gleichen Bett geschlafen haben! In jener Nacht war ich sehr müde. Außerdem kannte ich Sie noch nicht richtig. Seitdem habe ich es bereut, nicht…«
      Er blieb sitzen, von sich befriedigt und von einem leichten Fieber ergriffen, das seine Stimme dämpfte.
      »Hören Sie zu«, sagte sie. »Ich habe da unten keinen Skandal machen wollen, die Concierge und die Mieter aufhetzen… Ich weiß, was Sie riskieren. Aber Sie werden sich auf der Stelle wieder anziehen! Sie werden hier verschwinden! Ich nehme an, Sie sind nicht so verrückt, sich einzubilden, ich würde mich bereitfinden, jetzt noch, da…«
    »Jetzt noch, da

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