Der Mann, der den Zügen nachsah
fragte sie.
»Das möchte ich doch nicht so gern…«
»Ich will dir nicht zusetzen. Ich wollte dir nur etwas Angenehmes sagen. Also dann brauchst du mich nicht mehr?«
»Nein.«
Sie trennten sich auf dem Gehsteig einer Straße, die mit Obst- und Gemüsekarren vollgestopft war. Seine Taschenuhr hatte Popinga nicht mehr, aber er sah auf dem Platz eine Uhr, die viertel nach zwölf zeigte.
Das Viertel gefiel ihm, denn es wimmelte von Menschen jeglicher Kategorie und war durchsetzt von Bars, die brechend voll waren.
»Mit den dreitausend Francs, die mir bleiben«, rechnete er, »kann ich ungefähr einen Monat leben, und bis dahin werde ich etwas gefunden haben, um zu Geld zu kommen…«
Mit einemmal wurde er geizig, denn dieses Geld, das er
bis dahin nicht so wichtig genommen hatte, bekam nun einen ganz spezifischen Wert, ebenso wie der Rasierapparat in seiner Tasche, wie der Verzicht auf einen Handkoffer und wie jedes Detail in dem Lebensplan, den er jetzt für sich entwarf.
Dazu gehörte, daß er fast eine Stunde lang an einem
Metro-Eingang vor dem Pariser Stadtplan stehenblieb. Er hatte für Topographie ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Die Viertel, die Hauptschlagadern des Verkehrs, die Boulevards waren ihm mit der gleichen Präzision wie auf der Karte gegenwärtig, und wenn er sich aufmachte, war er imstande, sich durch Paris hindurchzufinden, ohne nach dem Weg zu fragen.
Er hatte kein Bedürfnis, zu Mittag zu essen, sondern trank in einer Bar zwei große Gläser Milch mit Hörnchen und war dann wieder rechtzeitig auf den Boulevards, um die Nachmittagszeitungen zu kaufen, die soeben erschienen waren.
Wenn er sich auch seit dem Morgen vorgespiegelt hatte, nicht daran zu denken, beschäftigte ihn gleichwohl das Schicksal von Jeanne Rozier. Er blätterte gierig in den Zeitungen und war erstaunt, aufgebracht und verärgert, nicht eine Zeile darüber zu finden. Von ihm war nicht mehr die Rede, als ob die Geschichte mit Pamela total vergessen wäre; hingegen verbreitete man sich ausführlich über ein noch ungeklärtes Drama, das sich im Eilzug Paris-Basel abgespielt hatte.
Indes, wenn Jeanne Rozier tot war, wären die Zeitungen gewiß schon benachrichtigt worden. Also…
Es sei denn… Wer weiß, ob es nicht eine Falle war, ob nicht die Polizei den Vorfall vertuscht hatte in der Hoffnung, er werde einen Schritt tun, der ihn verriete. Wenn er nur diesen Kommissar Lucas hätte sehen können, sei es auch nur durch eine Fensterscheibe! Dann hätte er sich ein Bild machen, sich Rechenschaft geben können, zumindest, welcher Art dieser Mann war und auf welche Schliche man bei ihm gefaßt sein mußte.
Na ja! Aber es gab etwas, das er ohne großes Risiko tun konnte. Denn auf Jeannes Nachttisch stand ja ein Telefonapparat…
Er ging in eine Brasserie, fand die Nummer unter »Rozier«, wählte sie und hörte eine ihm unbekannte Stimme, soweit sich das beurteilen ließ, die Stimme einer älteren Frau.
»Hallo! Bitte, ist Mademoiselle Rozier zu sprechen?«
»Für wen?«
»Sagen Sie, für einen Freund…«
So wußte er immerhin, daß sie nicht tot war! Nach kurzer Pause:
»Hallo! Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen? Mademoiselle Rozier ist krank und kann nicht an den Apparat kommen…«
»Ist es ernst?«
»Nicht sehr ernst, nein, aber…«
Das genügte! Er legte auf und setzte sich wieder in das große Bierlokal, wo er, eine Viertelstunde später, den Kellner rief und etwas zum Schreiben verlangte.
Er war übelgelaunt. Lange überlegte er, was er schreiben sollte: Schließlich schrieb er mit sicherer, geübter Hand:
Sehr geehrter Herr Kommissar, ich glaube, Ihnen einen neuen Vorfall melden zu müssen, der sich gestern nacht zugetragen hat und der in der Sache Popinga von Bedeutung ist. Vielleicht sollten Sie sich zur Wohnung von Mlle Rozier, Rue Fromentin, begeben und sie fragen, durch welche Umstände sie sich in dem Zustand befindet, in dem Sie sie antreffen werden…
Er zögerte, fragte sich, ob er noch mehr enthüllen sollte, doch dann dachte er an Goin und seine Schwester, und schrieb verbissen weiter:
Andererseits benutze ich gern diese Gelegenheit zu einer Zusammenarbeit mit der französischen Polizei, die sich so sehr für mich interessiert, daß ich auch meinerseits Interesse zeigen sollte.
Sie hätten die Möglichkeit, binnen kurzem eine ganze Bande von Autodieben auszuheben, die in großem Stil arbeitet. Diese Bande unter anderen war
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