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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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eine Zahnbürste.«
    Da er ihr das Geld im voraus gegeben hatte, hätte sie gut wegbleiben können, aber sie war anständig, kam zurück und legte Wert darauf, über ihre Ausgaben genau abzurechnen. Dann, als sie nicht wußte, ob sie gehen oder bleiben sollte, ihn auch nicht zu fragen wagte, setzte sie sich wieder auf die Bettkante und sah Popinga beim Rasieren zu.
      Es war in einer der Straßen, die auf den Faubourg Montmartre führen, ein viel schlechteres Hotel als das in der Rue Victor-Masse. Alles in allem verhielt es sich zu jenem Hotel wie die hier auf dem Bett sitzende Frau zu Jeanne Rozier, will sagen drei oder vier Klassen darunter.
      Andererseits war diese Frau, deren Namen Kees nicht kannte, wirklich auf sein Vergnügen bedacht, bemühte sich, seinen Geschmack zu erkunden und bewies das, indem sie seufzend sagte:
      »Du bist wohl ein trauriger Kunde, du, oder? Ich wette, du hast Liebeskummer…«
      Sie hatte den bestimmten, wenn auch vorsichtigen Ton einer Wahrsagerin.
      »Warum sagst du das?« fragte er mit eingeseifter Wange.
      »Weil ich die Männer allmählich kenne… Für wie alt hältst du mich?… Ich bin, wie du mich da siehst, achtunddreißig, mein Kleiner! Ich weiß, kaum zu glauben. Aber, versteh mich recht, ich habe schon oft solche wie dich erlebt, die einen mitnehmen und nichts mit einem anfangen. Meistens, im gegebenen Augenblick, fangen sie an zu reden, reden und reden und tischen einem ihre ganze Geschichte auf. Darin bekommt man Übung. Man hört sich alles an, und das verpflichtet zu nichts…«
      Es war nahezu patriarchalisch: Kees mit nacktem und fettem Oberkörper und herunterhängenden Hosenträgern; die Frau, die, im Warten auf ihn, artig ihr Gewerbe anpries! Das Komischste dabei war, daß, wenn er schon ihr zufolge ein trauriger Kunde sein sollte, seiner Person damit eine neue Charaktereigenschaft zuwuchs, die zu notieren er nicht vergessen durfte, und so hörte er nicht weiter auf ihre Reden.
    Der Rasierapparat hatte seinen Gedanken eine andere
    Richtung gegeben. Einen Augenblick fragte er sich, ob er sich nicht ein Köfferchen kaufen sollte, um darin einige Gegenstände unterzubringen.
    Denn wenn er allein und ohne Gepäck in einem seriösen
    Hotel für eine Nacht abstieg, lief er Gefahr, Aufmerksamkeit zu erregen. Mit einem kleinen Koffer dagegen würde er als Handelsreisender durchgehen. Aber was sollte er den Tag über mit diesem Handkoffer machen? Ihn bei einer Gepäckaufbewahrung abgeben? In einem Café deponieren?
      Auf jeden Fall war er entschlossen, nicht zweimal am selben Ort zu übernachten. Er hatte schon bemerkt, daß es bei denen, die sich schnappen lassen, nur dem Umstand zuzuschreiben ist, daß jemand in ihrer Umgebung plötzlich stutzt und etwas Verdächtiges entdeckt.
      »Kein Köfferchen!« brummte er vor sich hin, während er den Rasierapparat sorgfältig reinigte und in ein Stück Zeitung einwickelte.
      Abgesehen davon, liefe er Gefahr, als der Mann mit dem Köfferchen abgestempelt zu werden, und dieses simple Requisit würde genügen, ihn zu verraten.
      Seine Überlegenheit über die Helden der Geschichten, die er aus der Zeitung kannte – Diebe, Mörder und andere flüchtige Verbrecher –, beruhte darauf, daß er an diese Dinge nur dachte wie ehemals an die Geschäftspraktiken des Hauses Julius de Coster en Zoon, mit kühlem Kopf, völlig unbeteiligt, als beträfe ihn das überhaupt nicht.
      Kurz gesagt, ihn interessierte das Problem an sich, und so fragte er plötzlich seine Gefährtin:
    »Verlangen die in solchen Hotels die Ausweise?«
    »Niemals! Manchmal fragen sie nach dem Namen, um ihn in ihre Kartei zu schreiben. Dann kommt alle zwei oder drei Monate mitten in der Nacht die Polizei und weckt alle auf. Das passiert immer, wenn eine hochgestellte ausländische Persönlichkeit durchreist, wegen der möglichen Attentate.«
      Kees wickelte ebenso den Rasierpinsel, die Seife und die Zahnbürste ein und verstaute das alles in seinen Taschen, in denen schon sein rotes Notizbuch und sein Bleistift steckten, und das alles zusammen machte seinen Haushalt aus.
      Das war äußerst praktisch! Er konnte gehen, wohin er wollte, konnte jede Nacht in einem anderen Hotel schlafen, sogar jeweils in einem anderen Viertel von Paris. Wohl gab es diese berühmte Razzia, von der das Mädchen gesprochen hatte, aber er schätzte das Risiko, das er da einging, mit kaum eins zu hundert ein.
    »Nimmst du mich zum Mittagessen mit?«

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