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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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      In einem Milieu wie diesem konnte Kees stundenlang unbeweglich verharren, mit übereinandergeschlagenen Beinen, während die Asche an seiner Zigarre drei oder vier Zentimeter lang wurde.
      Erst ganz gegen den Schluß hin, als der Japaner besonders unglücklich schien und das Schachbrett schon seit mehr als zehn Minuten angestarrt hatte, ohne sich für einen Zug zu entschließen, ließ Popinga seine Asche fallen und sagte sanft:
    »Sie gewinnen doch in zwei Zügen, oder etwa nicht?«
      Der Asiate wandte sich überrascht ihm zu und litt nur noch mehr, weil er die Partie verloren glaubte. Sein Partner war nicht weniger verblüfft, denn er sah nicht im geringsten, wie man ihn schachmatt setzen könnte, da er doch seines Sieges sicher war.
      Einen Moment herrschte Schweigen. Der Japaner streckte die Hand nach seinem Turm aus, faßte ihn an, als sei die Figur aus glühendem Eisen, und blickte Popinga gleichsam ratsuchend an, während der Blonde nach einem neuerlichen Blick auf das Spiel gedehnt sagte:
    »Immer langsam. Ich sehe nicht, wie…«
    »Sie erlauben?«
      Der Japaner nickte zustimmend. Der andere wartete voller Skepsis.
    »Ich gehe mit dem Pferd hierhin… Was machen Sie?«
      Ohne sich Zeit zum Überlegen zu nehmen, sagte der Blonde:
    »Ich nehme ihn mit meinem Turm.«
      »Ausgezeichnet! Ich rücke also mit meiner Dame zwei Felder vor. Was machen Sie jetzt?«
      Diesmal fand der junge Mann keine Antwort, blieb einen Augenblick ratlos und zog dann seinen König ein Feld zurück.
      »Das wär’s! Ich rücke meine Dame nochmal ein Feld vor und sage Schach und Matt! Ziemlich einfach, nicht wahr?«
      Er pflegte in solchen Fällen eine bescheidene Miene aufzusetzen, aber sein Gesicht glänzte vor Befriedigung. Die beiden jungen Männer waren dermaßen beeindruckt, daß sie nicht daran dachten, eine neue Partie anzufangen.
      Doch der Japaner, der sich bemüht hatte, die Züge zu verstehen, sagte schließlich leise:
    »Wollen Sie mal spielen?«
      »Ich trete Ihnen meinen Platz ab«, sagte der andere »Aber nein! Wenn es Ihnen Spaß macht, spiele ich simultan gegen Sie beide… Sie nehmen jeder ein Brett…«
      Als er jetzt die Figuren liebevoll anfaßte, war deutlich zu sehen, daß er schöne Hände hatte, zwar etwas fleischig, aber makellos weiß und von feiner Struktur.
    »Kellner, bringen Sie noch ein Schachbrett.«
      Kommissar Lucas hatte den Rohrpostbrief noch nicht bekommen, aber wenn die zwei Schachpartien gespielt wären, würde er ihn in Händen halten und sich ohne Zweifel eiligst zur Rue Fromentin aufmachen.
    Die jungen Leute waren immer noch eingeschüchtert, zumal da Popinga, auf der Bank ihnen gegenüber vor den beiden Schachbrettern sitzend, sich das boshafte Vergnügen erlaubte, nebenbei mit dem Blick eine Partie Billard zu verfolgen.
      Er spielte, ohne zu zögern, an beiden Brettern zugleich. Seine Gegner nahmen sich Zeit zum Überlegen, besonders der Japaner, der unbedingt gewinnen wollte.
      Popinga dachte inzwischen, wie er sich wohl eine Liste aller Cafés, in denen Schach gespielt wurde, beschaffen könnte.
      Er schätzte, daß es davon eine ganze Menge geben müsse, denn bei seinem Studium des Pariser Stadtplans vorhin hatte er eine Entdeckung gemacht. In Groningen, wie in den meisten Städten, gibt es ein Zentrum, ein einziges, um das herum die Wohnviertel gelagert sind wie das Fruchtfleisch um den Kern.
      Weiter hatte Kees festgestellt, daß in Paris, wo es ein, zwei oder drei solche Zentren gibt, jedes Viertel überdies seinen eigenen Kern hat, seine Cafés, seine Kinos, seine Tanzlokale und seine pulsierenden Schlagadern.
      Ein Einwohner von Grenelle würde also nicht zum Boulevard Saint-Michel kommen, um Schach zu spielen, und ebensowenig ein Bewohner vom Parc-Montsouris! Also brauchte er sich nur gut umzusehen und würde in jedem Viertel…
      »Ach, verzeihen Sie bitte«, sagte er mit gespielter Verwirrung. »Sie können Ihren Läufer wieder zurücknehmen. Andernfalls setzen Sie ganz unnötig Ihre Dame aufs Spiel…«
    Es war der Blonde, der errötend stammelte:
    »Gezogen ist gezogen.«
    »Aber nein! Ich bitte Sie…«
    Der Japaner indessen schielte auf das Brett seines Nachbarn, um nicht die gleichen Fehler zu machen wie er. »Sie sind Studenten? Welches Fach?«
    »Medizin«, sagte der Japaner.
      Der Blonde wollte Zahnarzt werden, was ganz gut zu ihm paßte.
      Trotz seiner geistigen Anspannung mußte der Japaner

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