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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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einen klaren Kopf zu behalten, und beschloß, um auf andere Gedanken zu kommen, nach dem Abendessen in ein Kino zu gehen.
      Er speiste in einem billigen Restaurant für fünf Francs, aber es wurden dennoch elf Francs, weil er auf die Extras nicht verzichten wollte. Serviert wurde von Frauen in weißer Schürze, und er fragte sich wirklich, was die, die ihn bediente, von ihm denken mochte. Aus purer Neugierde gab er ihr fünf Francs Trinkgeld.
    Würde sie nicht erstaunt sein, ihn aufmerksam
    betrachten und eine Verbindung zwischen diesem Mann in Grau mit dem ausländischen Akzent und dem »Satyr« herstellen, von dem die Zeitungen geschrieben hatten?
      Keineswegs! Sie stopfte das Geld in ihre Tasche und machte weiter ihre Arbeit, als hätte er ihr nur fünfzig Centimes oder zwei Francs gegeben!
      Das Kino war gegenüber: Cinéma Saint-Paul. Er nahm eine Loge, denn es machte ihm nichts aus, gesehen zu werden. Und hier war die Platzanweiserin in Rot, ungefähr so wie der Hausdiener im Hotel Carlton in Amsterdam.
      Er versuchte es andersherum. Er gab ihr überhaupt kein Trinkgeld, und sie entfernte sich, irgend etwas knurrend, ohne sich weiter um ihn zu kümmern.
      Das war wohl sein Tag! Man hätte glauben können, daß er einfach fallen gelassen wurde. Daß man um seine Person ein Komplott des Schweigens schmiedete.
      Jeanne Rozier hatte die Polizei nicht alarmiert! In den Zeitungen war von der Fahndung nicht mehr die Rede! Goin stellte sich tot! Louis war in Marseille, und die Frau von heute morgen hatte sich damit begnügt festzustellen, daß er einer jener traurigen Kunden sei, wie sie sie oft sah.
      In Groningen ging er nie ins Kino, weil Mama diese Unterhaltung für vulgär hielt und weil man im übrigen in jedem Winter auf die Donnerstags-Konzerte abonniert war, was hinreichende Abwechslung bot.
      Im Cinéma Saint-Paul fand Popinga eine gewisse fiebrige Atmosphäre vor. Er kannte diese Art volkstümlicher Vergnügungsstätten noch nicht, wo mehr als tausend Personen dicht zusammengepfercht Orangen aßen und saure Bonbons lutschten.
    Hinter ihm stufte sich eine ganze Galerie, und wenn er sich umwandte, sah er Hunderte von Gesichtern vom Widerschein der Filmleinwand erhellt, was ihm großen Eindruck machte.
      Angenommen, daß irgendeiner plötzlich riefe: »Da ist er!… Der Verrückte von Amsterdam!… Der Mann, der…«
      In den benachbarten Logen hingegen üppige Frauen in Pelzmänteln, jüngere mit rosigen Wurstfingern und beleibte Männer – kurz, die Geschäftswelt des Viertels.
      In der Pause wurde ihm etwas schwindlig und er wagte sich nicht unter diese Menschenmenge, die an die Bar und zu den Pissoirs strömte. Er sah sich die Werbefilme an, und der Anblick eines Mobiliars erinnerte ihn an das, das sie in Groningen gekauft hatten, nachdem Mama sich die Kataloge sämtlicher Möbelhäuser Hollands hatte kommen lassen.
    Was machte sie wohl, Mama, zu dieser Stunde?
      Was dachte sie wohl? Nur sie hatte von Gedächtnisschwund gesprochen, zweifellos weil sie im Telegraaf einen Kriegsroman gelesen hatte, in dem ein hirnverletzter deutscher Soldat alles bis auf seinen Namen vergessen hatte und zehn Jahre später nach Hause kam, um seine inzwischen wiederverheiratete Frau vorzufinden und seine Kinder, die ihn nicht mehr erkannten.
      Und Julius de Coster? Immer weitertrinkend, hatte er im Kleinen Sankt Georg so allerlei erzählt, hatte aber, trotz seiner Trunkenheit, boshafterweise nicht gesagt, wohin er gehen würde. Wie Popinga ihn kannte, würde er nicht in Paris sein, eher in London, wo er sich mehr zu Hause fühlte. Ohne Zweifel hatte er dort ein Sümmchen beiseitegebracht, womit er unter irgendeinem Namen ein neues Geschäft aufziehen und wieder Geld machen würde!
    Während die Menge auf die Plätze zurückkehrte, wurde es dunkel, die Leinwand erstrahlte in Blaßrosa und ein Orchester spielte irgend etwas Wehmütiges, Gefühlvolles, was Popinga sehr anrührte. Mit allen anderen im Saal applaudierte er gewaltig, aber der Hauptfilm, in dem es um einen Advokaten und das Berufsgeheimnis ging, gefiel ihm nicht.
      Die dicke Dame im Nerzmantel in der Nebenloge sagte wiederholt zu ihrem Gatten:
      »Warum sagt er denn nicht die Wahrheit?… Das ist doch ein Trottel!…«
      Dann kam der Schluß, das langsame Trotten zum Ausgang, zu dem schwarzen kalten Loch der Straße, wo die Läden geschlossen waren und die Autos den Motor anließen.
      Popinga hatte an der Ecke der

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