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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ausgezeichnete Erziehung und höhere Bildung genossen. Als er mich heiratete, war er ein besonnener junger Mann, der nur davon träumte, einen eigenen Hausstand zu gründen. Seitdem und während der folgenden sechzehn Jahre ist er ein guter Ehemann und ein guter Vater gewesen. Er war fabelhaft gesund, aber ich muß sagen, daß er vorigen Monat, an einem Abend mit Glatteis, gestürzt und auf den Kopf gefallen ist. Kann es nicht sein, daß dies zu Schäden im Gehirn und zu Gedächtnisschwund geführt hat? Ganz bestimmt hat er das, was er getan hat, nicht bewußt getan und kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden…«
      Kees bestellte einen zweiten Kaffee und hätte beinahe eine Zigarre bestellt, aber er dachte an seinen Entschluß, und mit einem Seufzer stopfte er sich eine Pfeife, überlas die Zeilen und begann mit seiner Widerlegung.

    Folgendes, Herr Chefredakteur, habe ich dazu zu sagen:
    1. Ich bin nicht aus sehr guter Familie. Aber Sie werden verstehen, daß meine Frau, deren Vater Bürgermeister war, daran interessiert ist, den Journalisten so etwas zu erzählen. Meine Mutter war Hebamme und mein Vater Architekt. Es war ganz allein meine Mutter, die den Haushalt bestritt. Mein Vater blieb auf einen Schwatz, wenn er seine Kunden besuchte, trank mit ihnen, immer heiter und gesellig, wie er von Natur aus war. Danach vergaß er, einen Preis abzumachen, oder vergaß irgendeine Arbeit, die noch auszuführen war, so daß er ständig Ärger bekam.
    Aber das entmutigte ihn nicht. Er seufzte nur:
    »Ich bin eben zu gutmütig!«
       Aber meine Mutter sah das nicht so, und ich habe keinen Tag erlebt, wo es nicht Szenen deswegen gab; diese waren besonders heftig, wenn mein Vater mehr als gewöhnlich getrunken hatte, und meine Mutter sagte weinend zu uns, meiner Schwester und mir:
       »Da, seht euch diesen Mann an und bemüht euch, ihm niemals zu gleichen! Er wird mich noch ins Grab bringen!«
       2. Wie Sie sehen, Herr Chefredakteur, hat meine Frau nicht die Wahrheit gesagt. Auch nicht bezüglich der guten Erziehung, denn wenn ich auch auf der Fachschule für Navigation war, so verfügte ich doch nie über Taschengeld und konnte an den Vergnügungen meiner Kameraden nie teilnehmen, so daß ich verbittert und verschlossen geworden bin.
       Schließlich herrschte nur noch das Elend im Hause, aber man ließ es niemand merken. Selbst an den Tagen, an denen wir nur Brot zu essen hatten, stellte meine Mutter zwei oder drei Kasserollen aufs Feuer für den Fall, daß irgend jemand hereingeschaut hätte. So konnte sie glauben machen, sie bereite ein wunderbares Essen zu!
       Ich habe meine Frau gleich am Ende meines Studiums kennengelernt. Weil sich das besser macht, behauptet sie jetzt, es sei eine reine Liebesheirat gewesen.
       Das stimmt nicht. Meine Frau lebte in einem Städtchen, wo ihr Vater Bürgermeister war, und sie wollte lieber in einer großen Stadt wie Groningen leben.
    Und ich war geschmeichelt, die Tochter eines reichen und angesehenen Mannes zu heiraten, und obendrein eine, die bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr in einem Pensionat gewesen war.
       Wäre sie nicht gewesen, wäre ich zur See gegangen. Aber sie erklärte:
       »Ich werde niemals einen Seemann heiraten, denn das sind Leute, die trinken und sich mit Weibern abgeben!«

    Er zog den Artikel aus der Tasche, um ihn wieder zu lesen, obwohl er ihn schon fast auswendig kannte.
       3. Nach Madame Popinga sieht es so aus, als wäre ich während der sechzehn Jahre ein guter Ehegatte und ein guter Vater gewesen. Das stimmt ebensowenig wie alles übrige. Wenn ich meine Frau nie betrogen habe, dann weil sich das in Groningen nicht machen läßt, ohne daß alle Welt davon erfährt, und weil Frau Popinga mir das Leben zur Hölle gemacht hätte.
       Sie hätte kein Geschrei gemacht wie meine Mutter. Sie hätte sich so verhalten, wie sie es tat, wenn ich zufällig etwas gekauft hatte, das ihr nicht gefiel, oder wenn ich eine Zigarre zuviel geraucht hatte. Sie sagte dann nämlich:
    »Schon recht!«
       Dann sprach sie zwei oder drei Tage nicht mit mir, ging im Hause umher mit einer Miene, als sei sie die unglücklichste Frau der Welt. Und wenn die Kinder sich verwunderten, seufzte sie nur:
       »Euer Vater macht mich leiden… Er versteht mich nicht!«
    Da ich gern unbeschwert bin, habe ich es vorgezogen,
    diese Szenen zu vermeiden, und ich habe es in den sechzehn Jahren fertiggebracht, mich mit einem Schachabend pro Woche und einer

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