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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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empfangen würde. Aber am Empfang saß ein alter Nachtportier, ebenso mißgelaunt wie er selbst, der ihn, da er kein Gepäck hatte, im voraus bezahlen ließ und ihm einen Schlüssel aushändigte.
    Obendrein war Popingas Uhr stehengeblieben, und er wußte nicht, wann er endlich einschlief, noch wann er aufwachte, denn sein Zimmer lag zum Hof, so daß er sich nicht an dem erwachenden Straßenverkehr orientieren konnte.
      Erst wieder draußen merkte er, daß es noch sehr früh und die Stadt wie ausgestorben war, wie stets nach Festtagen. Nur sonntäglich gekleidete Leute aus den Vorstädten, die von den Bahnhöfen abfuhren, um ihren Verwandten Glück zum neuen Jahr zu wünschen. Und da es außerdem trübes Wetter war und ein eisiger Wind durch die Straßen fegte, konnte man sich ebensogut an Allerheiligen wie an Neujahr glauben!
      Wenigstens würde er in der Zeitung die Gutachten der beiden Psychiater finden, und noch während er auf einer Straße ging, die zur École Militaire führte, entfaltete er das Blatt.

    Professor Abram, der so freundlich war, uns gestern abend trotz der Feiertage zu empfangen, hat den Brief von Kees Popinga nur flüchtig gelesen, hat aber vor der später folgenden ausführlichen Darlegung seinen ersten Eindruck in einem Satz zusammengefaßt: Seiner Meinung nach ist der Holländer ein Paranoiker und kann, wenn man ihn in seinem Stolz zum Äußersten treibt, höchst gefährlich werden, und das um so mehr, als Leute dieser Art in allen Situationen von bemerkenswerter Kaltblütigkeit sind.
       Professor Linze, der für zwei Tage von Paris abwesend ist, wird uns, sobald er zurück ist, seine Ansicht mitteilen.
       Bei der Kriminalpolizei gibt es nichts Neues. Kommissar Lucas war gestern den ganzen Tag mit einer Rauschgift Sache befaßt, die ihm keine Zeit für anderes ließ, aber seine Mitarbeiter haben weiter ein Auge auf den Fall Popinga.
    Wir glauben, verstanden zu haben, daß in der Sache ein
    neues Element auf getaucht ist, worüber man jedoch am Quai des Orfèvres absolutes Stillschweigen bewahrt.
       Wir können nur soviel sagen, daß Popinga allem Anschein nach nicht mehr lange frei herumlaufen wird.

    »Wieso?«
      Er sprach mit sich selbst. Ja, warum sollte er nicht mehr lange in Freiheit sein? Und warum gab man keine Einzelheiten an? Und wieso behandelte man ihn als einen Paranoiker?
      Gewiß, er hatte das Wort schon gehört. Er ahnte ungefähr, was es besagen wollte. Aber hätte man sich nicht etwas präziser ausdrücken können? Wenn er nur in einem Lexikon hätte nachschlagen können! Aber wohin deswegen? In Groningen mußte man sich in den öffentlichen Bibliotheken eintragen, ehe man hinein durfte. In Paris würde es ebenso sein. Und in den Cafés, wo man zwar das Telefonverzeichnis und das Kursbuch konsultieren konnte, war es nicht üblich, auch noch Wörterbücher für die Gäste zur Verfügung zu halten.
      Es war gemein! Das hatte nachgerade etwas von einer Verschwörung, von boshafter Willkür, wie auch diese Anspielung auf ein neues Element, über das man Stillschweigen bewahrte.
      Hatte nicht Jeanne Rozier, die sich darin auskannte, von Kommissar Lucas gesagt, er sei ein gemeiner Hund? Popinga gewann allmählich den Eindruck, daß dieser Polizeimensch überhaupt nichts tat, überhaupt nicht suchte, sondern überzeugt war, daß sein Opfer sich ganz von selbst fangen lassen würde.
    Mußte man das nicht aus seinem Benehmen, wie es in der Presse beschrieben wurde, und aus den paar nichtssagenden Phrasen, die er zu äußern geruhte, schließen?
      Doch da täuschte er sich, denn Popinga war keineswegs entschlossen, sich kopfüber in eine Falle zu stürzen! Er war mindestens so intelligent wie dieser Herr und wie jener andere, der Irrendoktor, der nichts zu sagen wußte als (in arrogantem Ton) das Wort Paranoiker!
      So wie andere gesagt hatten: verrückt! Oder wie man gesagt hatte: ein Spinner! Oder wie die Frau auf Montmartre gesagt hatte: ein trauriger Kunde! Oder wie das magere Mädchen aus der Rue de Birague konstatiert hatte: du magst die Fülligen lieber!
      Bestand seine Überlegenheit über sie alle nicht eben darin, daß er wenigstens sich selbst kannte?
      Er las den – viel zu kurzen! – Artikel noch einmal, während er in einer kleinen Bar mit keramischen Wandverkleidungen im Stil von 1900 einen Kaffee mit Sahne trank und dazu ein Hörnchen aß. Dann fiel ihm wieder das junge Mädchen im blauen Seidenkleid ein; er suchte überall und

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