Der Mann, der kein Mörder war
seiner? Er wusste es nicht. Als er grün und blau zerschlagen und schockiert zu sich kam, mehrere hundert Meter von dem entfernt, was einmal der Strand gewesen war, wusste er nur, dass sie nicht mehr da war. Sie war auch nicht in der Nähe. Nirgendwo. Seine rechte Hand war leer. Sabine war weg.
Er hatte sie nie gefunden.
Lily hatte sie am Morgen allein zurückgelassen, um am Strand zu joggen. Wie sie es jeden Morgen tat. Und ihn damit langweilte. Ihre Predigten über den positiven Effekt der Bewegung. Wie sie ihren Finger in das weiche Etwas stieß, das einmal seine Taille gewesen war. Er hatte ihr versprochen, auch laufen zu gehen. Irgendwann einmal, in den Ferien, das hatte er versprochen. Aber nicht wann. An diesem zweiten Urlaubstag jedenfalls nicht. Den wollte er gemeinsam mit seiner Tochter verbringen. Lily war spät dran. Meistens lief sie, bevor es zu warm wurde, aber jetzt hatten sie in dem breiten Doppelbett zusammen gefrühstückt und waren liegen geblieben und hatten Unfug gemacht. Die ganze Familie. Zuletzt war Lily doch aufgestanden, hatte ihn geküsst, Sabine einen letzten Schmatzer verpasst und fröhlich winkend das Hotelzimmer verlassen. Sie werde heute nicht so lange laufen, hatte sie gesagt. Es sei zu warm jetzt, sie sei in einer halben Stunde zurück.
Auch sie fand er nie.
Sebastian stand vom Sofa auf. Ihn fröstelte. Es war kühl in diesem stillen Raum. Wie viel Uhr war es eigentlich? Kurz nach zehn. Er räumte das Geschirr vom Couchtisch und ging in die Küche. Als er nach Hause gekommen war, hatte er sich in der Mikrowelle ein rustikales Tiefkühlgericht der Marke «Landgasthof» aufgewärmt und sich mit seinem Teller und einem Leichtbier vor den Fernseher gesetzt. Schon beim ersten Bissen hatte er gedacht, dass ein Landgasthof, der solche Gerichte servierte, wahrscheinlich umgehend wieder dichtmachen müsste. Geschmacksarm war gar kein Ausdruck. Aber das Abendessen passte ausgezeichnet zum Fernsehprogramm. Verwässert, phantasielos und ohne den geringsten Biss. In jedem zweiten Sender blickte irgendein junger Moderator in die Kamera, um ihn, den Zuschauer, dazu zu bringen, anzurufen und seine Stimme für irgendwas abzugeben. Sebastian hatte die halbe Portion gegessen, sich zurückgelehnt und war dann offenbar eingeschlafen. Und er hatte geträumt.
Jetzt stand er in der Küche und wusste nicht, was er tun sollte. Er stellte den Teller und die Flasche neben die Spüle. Blieb stehen. Er war unvorbereitet gewesen. Normalerweise erlaubte er es sich nicht, einfach einzuschlafen. Niemals ein Nickerchen nach dem Essen oder ein Wegdösen bei einer Zug- oder Flugreise. Denn in der Regel zerstörte es das, was vom Rest des Tages noch übrig war. Aber aus irgendeinem Grund hatte er sich heute entspannt. Dieser Tag war anders gewesen. Er hatte gearbeitet. Er war ein Teil des Ganzen gewesen, das war ihm seit 2004 nicht mehr passiert. Er wollte nicht so weit gehen zu sagen, dass es ein guter Tag gewesen war, aber er war immerhin anders gewesen. Anscheinend hatte er geglaubt, dass der Traum sich daher heute nicht an ihn heranschleichen würde. Er hatte so falschgelegen. Und jetzt stand er hier. In der Küche der Eltern.
Rastlos und gereizt.
Unbewusst öffnete und schloss er die rechte Hand. Wenn er nicht den Rest der Nacht wach liegen wollte, gab es nur eins.
Erst würde er duschen.
Dann brauchte er Sex.
Das Haus sah wirklich schlimm aus. Überall Bügelwäsche, Schmutzwäsche, Staub und Abwasch. Die Bettbezüge mussten gewechselt und die Kleider gelüftet werden. Tagsüber machte die Frühlingssonne schmerzhaft bewusst, dass die Fenster geradezu nach einer Reinigung schrien. Beatrice wusste nicht einmal, wo sie anfangen sollte, also tat sie stattdessen gar nichts, genauso wie immer in der letzten Zeit, an jedem Abend und jedem Wochenende. Sie wagte nicht einmal daran zu denken, wie lange «in der letzten Zeit» gewesen war. Ein Jahr? Zwei? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie keine Lust hatte. Zu nichts hatte sie Lust. Sie verwendete all ihre Energie darauf, das Bild der beliebten, erfolgreichen Pädagogin und Arbeitskollegin in der Schule zu wahren. Die Fassade aufrechtzuerhalten, damit niemand merkte, wie müde sie war. Wie einsam und unglücklich.
Jetzt schob sie einen Haufen sauberer Unterwäsche beiseite, der nicht einsortiert worden war, und setzte sich mit ihrem zweiten Glas Wein an diesem Abend aufs Sofa. Wenn jemand durchs Fenster sehen würde – und die Unordnung im
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