Der Mann, der kein Mörder war
Hoffnungen kämpfte er immer weiter. Deutlicher als sie, härter als sie. Er stürzte, er versagte, doch er stand wieder auf und machte weiter. Ihretwegen. Bellas wegen. Der Familie wegen. Und Ursula war loyal gegenüber denen, die für sie kämpften. Unerschütterlich loyal. Das war nicht besonders romantisch und keineswegs der Mädchentraum einer perfekten Beziehung, aber Ursula hatte sich noch nie groß von derlei Idealen beeindrucken lassen. Sie hatte Loyalität schon immer für wichtiger gehalten als Liebe. Man brauchte Menschen, die für einen einstanden. Und an denjenigen, die es taten, hielt man fest. Das hatten sie verdient. Und was man in einer Beziehung möglicherweise vermisste, musste man sich eben woanders suchen.
Torkel war nicht ihr erster Geliebter, auch wenn er das sicherlich glaubte. Nein, es hatte andere gegeben. Schon früh in ihrer Beziehung hatte sie Mikael durch andere Männer komplettiert. Anfangs hatte sie versucht, sich selbst böse zu sein, aber es hatte nicht funktioniert. So sehr sie es auch versuchte. Es gelang ihr nicht, es als Betrug an Mikael zu sehen. Ihre außerehelichen Abenteuer waren eine Voraussetzung dafür, dass sie bei ihm bleiben konnte. Sie brauchte sowohl die Komplexität der Gefühle für Mikael als auch die unverbindliche physische Nähe zu jemandem wie Torkel. Ursula fühlte sich wie eine Batterie, die einen Plus- und einen Minuspol brauchte, um zu funktionieren. Sonst fühlte sie sich leer.
Eine Sache forderte sie jedoch von beiden: Loyalität.
Und in diesem Punkt hatte Torkel sie im Stich gelassen. Das war der simple Anlass für sie gewesen, die beiden Pole zusammenzuführen und kurzzuschließen. Es war eine kindische Entscheidung, nicht durchdacht und im Affekt gefällt. Aber es hatte funktioniert.
Und das Abendessen war angenehm gewesen.
Sie hatte sich vor dem Restaurant von Mikael getrennt, versprochen, so schnell es ging ins Hotel zurückzukehren, und ihn gewarnt, dass es aber spät werden konnte. Mikael sagte, er habe ein Buch dabei, also sei er beschäftigt. Sie brauche sich keine Gedanken zu machen.
Nach seiner Begegnung mit Mikael ging Torkels Abend weiter bergab. Billy rief ihn an, er befand sich gerade auf dem Rückweg von Groths Haus und berichtete, dass sie nichts gefunden hatten. Kein Blut auf der Kleidung, keine lehmbeschmutzten Schuhe, keine Spur davon, dass sich Roger – oder irgendein anderer – im Haus aufgehalten hatte. Keine Pirelli-Reifen am Auto und auch dort keine Blutspuren, ebenso wenig im Carport. Kein Kanister mit leichtentzündlicher Flüssigkeit, keine Kleider, die nach Rauch rochen. Nichts, was ihn auf irgendeine Weise mit den Morden an Roger Eriksson oder Peter Westin in Verbindung brachte. Nichts, absolut nichts.
Billy würde den Computer des Rektors noch einmal durchforsten, aber Torkel sollte sich nicht allzu große Hoffnungen machen.
Torkel beendete das Gespräch und seufzte. Er saß am Tisch und betrachtete die Wand mit der Dokumentierung des Falls, ohne dass ihm etwas Neues auffiel. Natürlich würden sie Groth vierundzwanzig Stunden lang festhalten können, aber Torkel konnte nicht ernsthaft erkennen, wie sie den Verdacht gegen ihn erhärten sollten. Kein Staatsanwalt der Welt würde auf der Grundlage des jetzigen Standes Haftbefehl gegen ihn erlassen. Also war es im Prinzip gleich, ob sie ihn heute oder morgen Nachmittag freiließen. Er wollte gerade aufstehen, als zu seiner Verwunderung Vanja in den Raum stürmte. Er hatte nicht mehr damit gerechnet, sie heute noch zu sehen. Eigentlich hatte sie sich um irgendwelche privaten Angelegenheiten kümmern wollen.
«Warum zum Teufel hast du Sebastian eingestellt?»
Ihre Augen blitzten vor Wut. Torkel sah sie müde an.
«Ich glaube, das habe ich jetzt ausreichend oft erklärt.»
«Es war eine idiotische Entscheidung.»
«Ist etwas vorgefallen?»
«Nein, es ist nichts vorgefallen. Aber er soll weg. Er stört.»
Torkels Telefon klingelte. Er blickte aufs Display. Der Kreispolizeidirektor. Torkel warf Vanja einen entschuldigenden Blick zu und ging dran. Sie tauschten eine knappe Minute lang Informationen aus.
Torkel erfuhr, dass die Reporter von
Expressen
die Verbindung zwischen Peter Westin und dem Palmlövska-Gymnasium und damit auch zu Roger Eriksson aufgedeckt hatten. Es war bereits im Internet veröffentlicht.
Der Polizeidirektor erfuhr, dass Torkel Ragnar Groth laufenlassen wollte und weshalb.
Torkel erfuhr, dass der Polizeidirektor nicht zufrieden war.
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