Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
nächstes geschehen würde.
Das Hauptportal war der einzige Ausgang der Kirche. Ich warf mir die Decken, unter denen ich übernachtet hatte, über die Schulter, öffnete so langsam und leise wie möglich die Tür und schlich hi naus. Links vom Eingang, um die Ecke des rechteckig gebauten Gotteshauses herum, wurde auf Russisch palavert. Ich erkannte die Stimme des Pastors, ein kantiges Organ, das nach Pirmin Petrowna klang, aber ich erinnerte mich kaum an ihn; außerdem waren mindestens noch zwei Männer und eine Frau an dem Gespräch beteiligt.
Wohin nun? Es blieb ja nur ein Weg: rechtsherum. Die Kirche stand etwas erhöht mit dem Portal zur Hauptstraße über dem Dorf. Die Straße schwenkte um die Kirche herum nach links. Zur Rec hten schloss sich der Friedhof an, dahinter war auf einer flachen Anhöhe ein kleiner Wald. Die Bäume schienen mir im Moment die beste Zuflucht, und so ging ich am Friedhof vorbei einen kleinen Trampelpfad entlang hügelan und in das Wäldchen hinein. Es standen am Waldrand ein paar Fichten, die Hauptfront machten Buschwerk und Laubbäume – kahle Äste in beiden Fällen, die wenig Sichtschutz boten. So schlug ich hinter einer Fichte, um die herum und durch deren Nadeln hindurch ich eine gute Sicht auf die Kirche hatte, mein Lager auf. Ich breitete eine Decke an einer Stelle über den Boden, die frei von Schnee und nicht allzu matschig war. Die andere Decke wickelte ich mir um den Körper.
Ich kam mir lächerlich vor bei meinem Versteckspiel. Das G efühl, mich nicht frei bewegen zu können, war mir so fremd, trotz allem, was mir widerfahren war. Ich hatte nie anders gelebt als offensiv, verstecken kam nicht in Frage. War es nicht viel gefährlicher, mit meiner Lungenentzündung wer weiß wie lange im Wind auf dem kalten Boden zu sitzen als Linas Haus aufzusuchen und mich von ihr wieder ins Bett packen zu lassen? Billardkugel würde es doch wohl nicht wagen, die Häuser des Dorfes zu durchsuchen, und dass ich ausgerechnet bei der Mutter von Honkes Unterschlupf hätte, das würde er gar nicht in Erwägung ziehen.
Ich blieb in meinem Versteck. Die Angst, in dieses Gefängnis z urück zu müssen für den Rest meines Lebens, war größer als die Angst, an Lungenentzündung zu sterben. Frank Fercher starb ohnehin nicht an Lungenentzündung, auch kein unterernährter, bis über die letzten Reserven hinaus abgezehrter, armamputierter Frank Fercher. Ich denke, ich war an diesem Morgen wie besoffen vom Fieber, sonst hätte ich mich nicht in die Kälte gehockt, sondern mir Bewegung verschafft. Und die Lulligkeit nahm zu, je länger ich da saß. Man schwatzte und schwatzte hinter der Kirche, und die Motoren der Sattelschlepper – von hier oben aus sah ich mindestens zwei – liefen dazu und hüllten das Kirchenportal in weißgrauen Nebel, was mein Umweltgewissen empörte. Andere Dorfbewohner stiegen die Hauptstraße heran, verschwanden hinter der Kirche und gesellten sich dazu.
Ich versuchte mir einen Reim zu machen. Es war nie die Rede d avon gewesen, dass der Petrownasche Konvoi dieses Dorf im Auftrag seiner Mission anfuhr. Ein Kinderheim gab es hier nicht, auch keine wirklich notleidenden Senioren. Wer zum Sattelschlepper kam, ging dann zwar nach einiger Zeit mit dem einen oder anderen Gegenstand in der Hand wieder davon, bei einer alten Frau erkannte ich eine Kaffeemaschine, aber abgeladen wurde hier nicht. Zumindest im Moment nicht. Vielleicht machte Petrowna nur einen Abstecher über Kronsweide, um seinen Freund und Kollegen Näb zu besuchen, und die Hilfslieferung war längst woanders abgeladen oder würde noch verschafft werden. Wie immer es auch sein mochte, ich konnte nicht den ganzen Tag hier im Wind auf dem Hügel sitzen. Wohin nur?
Im Nebel der Abgase traten schließlich sechs Männer um die Ki rche herum. Drei der Männer sagten mir gar nichts, vielleicht waren das Fahrer oder Begleiter des Hilfstransportes, sie gingen die Dorfstraße hinunter zu einem Haus, das eine Gaststube sein musste. Pastor Näb, Petrowna und die runde, feste, graue Gestalt von Billardkugel verweilten am Kirchenportal. Jeder der drei unterstrich seine Worte mit ausholenden Gesten, die leicht zu interpretieren waren: Pastor Näb wollte den drei anderen Männern zur Gaststube folgen, Petrowna war genervt und wollte ebenfalls keine weitere Zeit mit Herumstehen und Schwatzen verlieren. Billardkugel aber wollte in die Kirche. Der Pastor stand wie ein Fels vor dem Eingang, aber schließlich schaffte es
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