Der Mann, der nicht geboren wurde
natürliches Licht gehabt, weder in seinem Zimmer noch in seiner
Schreibstube. Aber dennoch hatte er sich dort freier und lebendiger gefühlt als
in den sämtlichen Anforderungen genügenden Rathausräumlichkeiten Kuellens oder
in dem gutbürgerlichen Gasthauszimmer, das er dort im Quellenhof bewohnt hatte.
Das Haus des Mammuts war verloren, doch
die Erinnerungen an die Idee, auf die dieses Häuschen sich gegründet hatte,
waren noch frisch und schmerzhaft und unverheilt.
In der fahlen Finsternis der Gefängnisnacht umschwirrten die
Leichname von Estéron und Eljazokad Rodraeg wie fahle, riesenhafte Motten. Bestar
mit dem Speer im Bauch. Migals zertrümmerter FuÃ. Rodraeg selbst, mit Hellasâ
Pfeil im Herzen. Naenn, vor Schmerzen sich bäumend während der Geburt. Die
Explosion im Hafen Wandrys. Eine nackte, gebundene und gefolterte Tjarka. Alle,
die er kannte und schätzte, tot, erschlagen, aufgebraucht und belächelt von
ihren eigenen Spiegelbildern in der Höhle des Alten Königs .
Und dann die Zukunft: Riban als plappernder Säugling. Bestar, von
Hundemeuten und Kopfgeldjägern durch Schluchten und Flussläufe gehetzt. Hellas
am Galgen, leise quietschend im Wind. Cajin verwildert, als langmähniger
Raubritter dem gewaltgetränkten Erbe seiner Zeugung folgend. Rodraeg als
Sechzigjähriger, nach zwanzig Jahren Kerkerhaft rotäugig, weiÃbärtig und
ausgemergelt wie ein Gespenst.
Diese letzte Vorstellung immerhin brachte ihn schon wieder fast zum
Lachen.
Er durfte nicht den Verstand verlieren.
Das Mammut war gefallen, aber es war noch
nicht ganz tot.
Am folgenden Tag kam Vetz
Brendo zu Rodraeg. Zwei übernächtigte Gardisten lauschten angestrengt und
schrieben mit.
»Es gibt schlechte Neuigkeiten«,
begann der Landspurenführer. »Ich habe gerade mit Dilljen Kohn gesprochen. Man
war schon kurz davor, Euch ein beschleunigtes Verfahren einzuräumen, um die
Sache angesichts des allgemeinen Chaos endlich vom Tisch zu haben. Zumal jetzt
ja weitere Mörder aufgetaucht sind, die wohl gegen ihren Willen gemordet haben,
ein Freudenmädchen, ein Gardist und Endreasisâ Frau. Im Vergleich zu denen
steht Ihr noch ziemlich gut da, denn aus Eurem Mordversuch ist ja nichts
geworden. Ihr wärt also wahrscheinlich bei einem Schnellurteil mit ein, zwei
Monden Haft und einer Geldstrafe davongekommen. Aber jetzt kippt alles. Ein
Zeuge ist aufgetaucht, der Euch des Hochverrats an der Königin bezichtigt. Er
behauptet, Ihr seid der Anführer einer gemeingefährlichen Gruppierung, die zu
Beginn dieses Jahres eine königliche Mine gestürmt und zerstört hat unter
Inkaufnahme von über vierzig Todesopfern.«
»Wer ist dieser Zeuge?«
»Ein Mann namens Wellingor Deterio.«
Rodraeg hatte das Gefühl, auf einen Schlag schlohweià zu werden. Deterio! Der ist immer noch am Leben? Das Letzte, was
Rodraeg von ihm gesehen hatte, war eine zusammengebrochene Gestalt mitten im
hochgiftigen Nebel einer knapp vermiedenen Katastrophe, vom Leben abgetrennt
durch ein unbewegliches Eisengitter. Rodraeg hatte ihm noch Reste eines
Heiltranks eingeflöÃt, ihn aber nicht mehr bergen können.
»Es kommt noch schlimmer«, fuhr Vetz Brendo einfach fort.
»Irgendjemand ist auf die glorreiche Idee gekommen, den Mord an Gauden
Endreasis nun doch Bestar Meckin in die Schuhe zu schieben.«
»Was? Aber ⦠Endreasisâ Frau â¦!«
»Einige Leute wollen das nicht wahrhaben. Die Frau kann das nicht getan haben, sie hat ihren Gauden doch
ehrlich geliebt, das konnte jeder sehen, blablabla. Viel bequemer ist es, ein
wahnsinniger Klippenwälder hat, nachdem er zwei Passanten und einen Gardisten
erstochen hat, noch eben den Gardekommandanten kaltgemacht und dessen
protestierende Frau aus dem Fenster geschmissen. Das klingt doch schon viel
besser und ist auch für den Kommandanten ein nicht ganz so unheroischer
Abgang.«
»Aber das ist doch alles erfunden! Kann man das denn nicht
nachprüfen, mit Zeiten und Gleichzeitigkeiten und so? Bestar kann doch nicht
überall zugleich gewesen sein!«
»Das Problem ist: Bestar Meckin ist geflohen. Endreasis wurde erst
später ermordet, am frühen Morgen. Es könnte also sein, dass ein rachedurstiger
Meckin nach Warchaim zurückgekehrt ist und das Ehepaar Endreasis erledigt hat.
Es könnte sein. Es ist nicht auszuschlieÃen. Ob drei Morde oder fünf,
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