Der Mann, der nicht geboren wurde
Rodraeg wusste nicht, ob aus Rücksicht auf den
Ruf der Bewohner des Mammuthauses oder als
VorsichtsmaÃnahme vor eventuellen Angriffen durch Bestar, Eljazokad oder
Hellas.
SchlieÃlich durchquerten sie die von finster dreinblickenden
Figelius-Söldnern gesäumte Eingangsdurchfahrt und bewegten sich über fein
gerechte Kieswege an munter plätschernden Springbrunnen und Buntkarpfenteichen
vorüber auf das von Nebengebäuden umstandene Schloss zu. Fackeln erleuchteten
die Nacht zu erstaunlich gleichmäÃiger Helligkeit. Keiner der vier
Festgenommenen war jemals innerhalb der Schlossparkmauern gewesen. Bis auf
Estéron staunten sie alle über die helle, ziselierte Architektur des
weitläufigen Schlosses, die geometrisch in sich verschlungene Anlage der
Gärten, Innenparks und Pfade und die unnatürliche, abgezirkelte Gestutztheit
der Bäume, Rasenflächen und Hecken.
Unweit des Schlossgebäudes, auf einer von Fackeln erhellten Rasenfläche,
standen etliche Personen. Die meisten waren Stadtgardisten und Figeliusâsche
Leibgarde, aber es gab auch Nichtuniformierte. Rodraeg erkannte die Hauptfrau
Larza Durbas wieder, die schon den Brand des Slessinghauses in geordnete Bahnen
gelenkt hatte. Die kleine Silhouette von Gauden Endreasis wie auch die
markanten Züge des Barons waren nirgendwo auszumachen.
Als sie näher kamen, löste Leutnant Adsar sich von ihnen und
erstattete der Hauptfrau Bericht. Sie hörte sich alles nickend an, nickte auch
in Bezug auf Estéron und winkte die Festgenommenen dann zu sich. Erst jetzt
konnte Rodraeg erkennen, dass auf dem Rasen ein Körper lag, von einem Laken
verdeckt. Auf einen Wink der Hauptfrau wurde das Laken von einem Gardisten
weggezogen wie bei einem Zaubertrick. Im matten Gras lag der Leichnam eines
jungen Mannes in Rüschenhemd und edler Oberbekleidung. Er lag auf dem Rücken,
die Augen und den Mund nur halb geschlossen. Nächtlich schwarzes Blut ummalte
seinen Scheitel und die Halsgegend. Sein Oberlippenbartflaum schimmerte golden
im Fackellicht. Rodraeg wusste sofort, dass es dieses goldene Flimmern der
Unreife war, das ihm von dem Toten am tiefsten im Gedächtnis bleiben würde.
»Kennt ihr diesen Mann?«, fragte die Hauptfrau die vier
Festgenommenen.
Rodraeg, Naenn und Cajin verneinten. Naenn zitterte angesichts des
Leichnams am ganzen Leib wie Espenlaub. Rodraeg fürchtete, sie würde jeden
Augenblick zusammensinken. Estéron äuÃerte sich nicht zur Frage der Hauptfrau
und wandte dem Geschehen eher ein Ohr als sein Gesicht zu.
»Nie begegnet?«, hakte die Hauptfrau noch mal nach. Wieder nur
Verneinen.
»Sein Name war Vinzev Traló. Ein weitläufiger Verwandter von Baron
Figelius und Bewohner dieses Adelsbezirkes. Sagt euch der Name auch nichts?«
Kopfschütteln. Naenns Zittern. Larza Durbas betrachtete sie und
ihren Bauch. Zum ersten Mal war im harten, unweiblichen Gesicht der Hauptfrau
jetzt so etwas wie Missbilligung zu lesen.
»Nur der Nachname: Traló. Kennt ihr vielleicht den Vater oder den
Onkel?«
Rodraeg fühlte sich bemüÃigt, ausführlicher zu antworten. »Wir
kennen ehrlich gesagt niemanden im Adelsbezirk auÃer den Baron selbst, und auch
den nur dem Namen und seinem Ruf als Stadtrat nach. Wir sind einfache Leute.
Keiner von uns war jemals auf diesem Gelände. Dürfte ich fragen, was die ganze
Angelegenheit mit uns zu tun hat?«
»Was die ganze Angelegenheit mit euch zu tun hat? Das hier!« Die
Hauptfrau reichte Rodraeg einen annähernd quadratischen Zettel mit einem
winzigen, blutbefleckten Loch in der Mitte. Rodraeg nahm ihn und zeigte ihn
auch Naenn und Cajin. Auf dem Zettel war mit schwarzer Tusche das Mammut
gemalt, ziemlich genau so, wie Cajin es vor einem halben Jahr als Schattenriss
an die Tür des Hauses des Mammuts gepinselt hatte.
Das blutige Loch war mitten im Mammut. »Im Kopf des Toten steckte eine lange
Nadel«, erläuterte die Hauptfrau. »Sie ist vom Gaumen aufwärts durchs Gehirn
hochgestochen worden, bis sie oben am Schädel ein kleines Stückchen wieder
austrat. Und auf dieses kleine blutige Stückchen Nadelspitze hat der Mörder,
wie ein lustiges Hütchen oder ein Fähnchen, diesen Zettel gesteckt.«
Rodraeg schluckte, aber es gelang ihm, ruhig zu bleiben. So also geht DMDNGW vor: Er hängt uns
einen Mord an, anstatt uns direkt anzugreifen. Ich zumindest hatte etwas
Weitere Kostenlose Bücher