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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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niedrig lag.
    Tempus fugit!, stachelte er sich abermals an. Wenn ihm nur nicht so übel wäre.
    Er drehte das Löschblatt um. Es funktionierte! Auf dem Papier waren dunkle Flecken zu sehen. Damit konnte er nachvollziehen, welche Tasten Microbrain gedrückt hatte, nur die richtige Reihenfolge verriet ihm das Muster nicht. Von nun an wurde die Sache diffizil.
    Zeit flieht!
    Und er würde auch fliehen, wenn er jetzt nicht die Nerven verlor. Schließlich war er Tim Labin, der Savant, der Wissende, der Mann, der nichts vergessen konnte. Auch nicht die Zeitabstände zwischen dem Drücken der verschiedenen Tasten. An dieser Stelle kam ihm sein musikalisch geschultes Gehör zugute. Bis zum Erbrechen (sic!) hatte er die Klickintervalle während des Tippens mit den Ohren eingefangen, mit dem Gehirn gespeichert und mit dem Verstand analysiert. Je weiter zwei Tasten auseinander liegen, desto länger die Pause zwischen zwei Eingaben, so lautete die Regel. Bei Jamilas flinken Fingern war der Unterschied kaum wahrzunehmen gewesen, aber die Pranken von Knight und Microbrain hatten für die Eingabe wesentlich mehr Zeit benötigt.
    Tempus fugit!
    Er starrte auf das Löschblattmuster und bewegte die Finger der rechten Hand wie zur Lockerung vor einem Klaviersolo. In der Eile, die Microbrain eben an den Tag gelegt hatte, waren seine Finger für ihn ungewohnt schnell über die Tastatur gehüpft. Damit gab es eine dritte Komponente, aus der Tim Rückschlüsse zum Knacken des Codes ziehen konnte: die Derivation, wie man in der Ballistik die Abweichung von der theoretischen Flugbahn eines Projektils nannte. In der Regel neigt der Mensch dazu, bei einer beabsichtigten Punktlandung aus einer fließenden Bewegung eher etwas übers Ziel hinauszuschießen. Bewegt man sich von einer unteren Taste zu einer höher liegenden, wird also in aller Regel Letztere oberhalb des Mittelpunktes getroffen. Auf
    Seitwärtsbewegungen trifft entsprechend das Gleiche zu.
    Die so gewonnenen Eingabeparameter hatte Tims zahlenvernarrtes Gedächtnis binnen Sekunden verarbeitet, und heraus kamen fünf mögliche Kombinationen.
    Er tippte die erste ein.
    Das sonst so eilfertige Summen des Schlosses blieb aus.
    Nach einer Viertelminute klickte es leise, und er durfte Versuch Nummer zwei starten. Der war jedoch auch nicht erfolgreicher. Tim wippte ungeduldig in den Knien, während die dreißig Sekunden verflossen, bis er die Freigabe zum nächsten Durchlauf bekam.
    Tempus fugit! Nun mach schon!
    Mit der gebotenen Sorgfalt probierte er die dritte Kombination.
    Das Schloss blieb stumm.
    Er starrte auf seine Armbanduhr und hypnotisierte den Sekundenzeiger, doch der verwandelte sich nicht in eine Hochgeschwindigkeitszentrifuge.
    Tick, tick, tick… Die Zeit war flügellahm geworden.
    Endlich hörte er wieder das Klicken und tippte die vierte Ziffernfolge ein.
    Der Summer ertönte.
    Tim atmete auf, griff zum Türknauf, zog ihn sachte auf und spähte durch den Spalt in die Bibliothek. Mittlerweile herrschte ein reger Betrieb. Zum Untertauchen ideal, dachte er.
    Plötzlich machte er eine niederschmetternde Entdeckung.
    Stalin, oder wie immer der Deckname des Agenten mit den großen Ohrläppchen lautete, eilte gerade aus dem Hauptlesesaal. Tim stockte das Blut in den Adern. Warum schlich der Kerl ständig hier herum? Wartete er auf seinen Einsatz, auf einen Anruf von Owl? Es sah so aus, als liefe der Messerschwinger von Cambridge direkt aufs Labor zu. Wollte er nach der missglückten Übung in England nun blutigen Ernst machen?
    Wie vom Donner gerührt stand Tim da und starrte seinen Henker an…
    … der unvermittelt nach links abbog und den Flur hinunterlief. Vermutlich in Richtung Herrentoilette, wo Microbrain seinen Anzug zu retten versuchte.
    Tim wusste, ihm blieb zur Flucht nur ein schmales Zeitfenster. Er trat aus dem Büro und lief so unauffällig, wie es ein eilig dahinschreitender Schachweltmeister nur vermochte, in Richtung Ausgang.
    Timo fugit!
    Emil Kogans Blick ruhte auf einem großen Monitor, der in sechs kleinere Kamerabilder unterteilt war. Diese zeigten verschiedene Ausschnitte aus dem Librarian’s Office. Er schmunzelte. Sich zu erbrechen und mit dem Auswurf die Kombination des Zahlenschlosses herauszubekommen, das hatte was. Nicht besonders appetitlich, aber einfallsreich.
    Vielleicht sollte er die Aufzeichnung den Kollegen von der Agentenausbildung als Lehrvideo zur Verfügung stellen. Aber nein, man würde nur unbequeme Fragen nach der Herkunft stellen. Der

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