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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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kein Arzt, aber er scheint sich nicht bewegen zu können«, antwortete sie.
    »S-sie«, krächzte der Professor, musste aber sofort wieder abbrechen. Verzweifelt rang er nach Luft.
    Jamila öffnete ihm die obersten Hemdknöpfe. »Brauchen Sie Medikamente?«
    »Sie haben den Text…«, röchelte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. Sein starrer Blick wechselte zu Tim. »Bitte verzeihen Sie mir, mein Freund, aber…« Afsahi würgte, schloss die Augen und seufzte: »… meine Familie ist in ihrer Gewalt… Ich konnte nicht anders…« Er verstummte.
    Jamila tastete nach seiner Halsschlagader.
    Ihre äußere Ruhe war für Tim unerträglich. Hektisch stand er auf und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Vielleicht stand ja irgendwo ein Fläschchen mit Herztropfen oder Tabletten. Im Raum herrschte das gewohnte Chaos, nicht weniger, aber auch nicht mehr Unordnung als sonst.
    Abgesehen von…
    »Er ist tot.«
    Jamilas kühle Diagnose ließ Tim zusammenfahren. Er sah vom Schachbrett zu dem reglosen Körper am Boden. »Wie kannst du da so sicher sein? Warte, ich rufe einen Notarzt.«
    »Das tust du nicht!«, hielt sie ihn barsch zurück. Ruhiger fügte sie hinzu: »Davon wird Zircon nicht wieder lebendig.«
    »Aber du bist Historikerin, wie kannst du…?«
    »Ich habe einen Kurs absolviert.«
    »Einen Erste-Hilfe-Kurs?«, japste Tim. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch Jamilas absonderliches Verhalten raubte ihm die Worte.
    Zwar nicht so gründlich, aber mindestens so abgebrüht wie eine Pathologin untersuchte sie Kopf, Hals, Brust und Rücken der Leiche. Beiläufig erklärte sie: »Es war ein ziemlich ausführlicher Kurs.«
    Tim stand kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. »Und was tust du da gerade?«
    »Ich suche nach Verletzungen.«
    »Du glaubst doch nicht… er wurde ermordet?«
    »Doch, Tim.« Sie ließ von dem Toten ab, bettete ihn sanft auf den Boden und erhob sich. »Oder hast du seine letzten Worte nicht gehört? Außerdem standen sämtliche Türen offen. Glaub mir, jemand ist hier eingedrungen und hat ihn umgebracht.«
    Obwohl sein Verstand ihr recht gab, weigerten sich seine Gefühle, die Ungeheuerlichkeit zu akzeptieren. Er hatte den alten Perser fast schon als Freund betrachtet. Und jetzt war er tot. Tim schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Zeichen von Gewaltanwendung gesehen. Du etwa?«

    »Nein, ich auch nicht. Weder am Haus noch an der Leiche.
    Aber das bedeutet gar nichts. Zircon könnte seine Mörder gekannt und selbst hereingelassen haben. Vielleicht wurde er vergiftet.« Sie deutete mit einer raumgreifenden Geste ins Zimmer. »Ich kann nirgendwo die Notizen mit dem Klartext der Chiffre entdecken. Fällt dir sonst noch was auf?«
    Tim war wie betäubt. Ja, die Leiche fiel ihm auf. Er war es nicht gewohnt, in Gegenwart von Toten Konversation zu machen. Aber dann zwang er sich doch, seinen Blick durch den Raum schweifen zu lassen. Er deutete auf das Regal gegenüber dem Erker. »Die Ausgabe von De Doctrina Christiana ist weg.«
    Jamila runzelte die Stirn. »Sag jetzt bitte nicht, du hättest dir jeden Buchtitel in diesem Raum gemerkt.«
    »Doch, habe ich. Es sind ja nur 2257, die auf dem Boden und dem Schreibtisch gestapelten mit eingerechnet. Zircon besaß ein Faksimile unseres Schlüsselwerks, die gleiche Ausgabe, die ich heute in der Bibliothek für die Dechiffrierung benutzt habe. Seltsamer Zufall, findest du nicht?«
    Anstatt zu antworten, blickte sie wieder zu der unscheinbaren Lücke im Regal.
    »Und noch etwas anderes ist mir sofort aufgefallen, als ich den Raum betrat«, fügte Tim hinzu und eroberte damit ihre Aufmerksamkeit zurück. Er zeigte zu dem Schachbrett auf dem Tischchen neben dem Toten. »Der König fehlt ebenfalls.«
    Jamila machte – Tim lief allein beim Zusehen ein Schauer über den Rücken – einen großen Schritt über die Leiche hinweg, um das Spielbrett genauer zu betrachten. »Du hast recht. Und die Figuren sind ziemlich merkwürdig angeordnet.«
    »Diese Stellung ist in einer regelkonformen Partie unmöglich«, bestätigte er. »Ähnliches ist mir schon früher aufgefallen. Zircon hat beide Male seiner Haushälterin die Schuld in die Schuhe geschoben.«

    »Hört sich an, als hättest du Zweifel daran.«
    Er murmelte nickend: »In der Stellung ist eine Bedeutung verborgen, ich weiß nur nicht…« Seine Stimme versickerte, während er versonnen die einzigen beiden Figuren betrachtete, die neben dem Brett standen: einen weißen Läufer und einen schwarzen Turm.

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