Der Mann, der nichts vergessen konnte
Schachs ins richtige Leben übertragen, und im Spiel der Könige galt die Maxime: Kämpfe um die Initiative! Vermeide das feindliche Gegenspiel! Fürs Zaudern blieb da keine Zeit.
Er lief über die flachen Stufen zu dem großen, glasgefüllten Bogen, in dem sich der Haupteingang befand, und schlüpfte in das Gebäude.
Durch die Fenster fiel genügend Licht in die Vorhalle, um sich zu orientieren. Den Grundriss des Gebäudes kannte Tim ohnehin auswendig. Die Tür links von ihm führte ins Treppenhaus. Und sie war ebenfalls nur angelehnt.
Wenige Schritte später befand sich Tim im Turmaufgang. Auch hier gab es genug Fenster, um nicht völlig im Dunkeln zu tappen. Die elektrische Beleuchtung einzuschalten wagte er nicht. Den Fahrstuhl, mit dem wohl hauptsächlich Bücher transportiert wurden, ließ er links liegen und begann mit dem Aufstieg. Wonach immer er auch suchte, es konnte sich in jedem Stockwerk befinden.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, schlich er förmlich die Stufen empor. Über dem Dach des Bibliotheksfoyers betrat er das eigentliche Turmlager. Einige Schritte weit wagte er sich ins Zwielicht vor. Er sah Stahlregale, die sich rasch im Dunkel verloren. Unwillkürlich musste er an sein Gedächtnisarchiv denken, auch dort gab es solche finsteren Fluchten. Die bedrückende Stille und das schwindende Licht ließen ihn einmal mehr an seinem aberwitzigen Unterfangen zweifeln. Eine Nachricht Afsahis in diesem Lager aufzuspüren glich, selbst bei ausreichender Beleuchtung, der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Resignation machte sich in ihm breit, und er wandte sich zum Gehen.
Plötzlich verharrte er mitten in der Bewegung. Neben der Fahrstuhltür klebte ein Zettel. Mit dickem schwarzem Stift war darauf eine Schachfigur gezeichnet: ein Turm. Und darunter stand etwas. Schnell lief Tim zum Lift, um die Botschaft zu lesen. Sie bestand aus nur vier Buchstaben:
Dach
Viel deutlicher kann ein Wegweiser kaum sein, dachte er und drückte den Knopf unter dem Blatt. Aus dem Fahrstuhlschacht ertönte ein hallendes, wenig Vertrauen erweckendes Ächzen.
Anscheinend stammte der Aufzug noch aus dem Jahre 1934, als das Gebäude dank großzügiger Unterstützung der Rockefeller-Stiftung seiner Bestimmung übergeben worden war. Die Kabine tauchte von unten im Sichtfenster der Lifttür auf. Tim stieg aber nicht ein.
»Idiot. Seit wann fährst du Lift?«, murmelte er zu sich selbst und wandte sich wieder den Treppen zu. In Fahrstühlen bekam er klaustrophobische Anfälle. Die Fassungslosigkeit über die eigene Konfusion ließ ihn den Kopf schütteln. »Du fängst an durchzudrehen, Tim. Bleib ruhig!«
In eher gemächlichem Tempo arbeitete er sich nach oben. Sein Unterbewusstsein zählte penibel die Stufen. Die anstrengendste Sportart, die Tim regelmäßig betrieb, war Schach. Seine Pumpe schlug daher bald so heftig wie bei Jamilas erstem Händedruck. Während er dem Dach näher kam, schwirrten ihm tausend Dinge durch den Kopf. Im Nachhinein wurden ihm die kleinen Signale bewusst, die ihm am Mittag, als sie dem Dekan den Klartext des dritten Blattes präsentiert hatten, nicht aufgefallen waren. Zircon hatte unkonzentriert gewirkt, einmal sogar richtig geistesabwesend. Sein oft so trockener Humor war irgendwie aufgesetzt. Und dann hatte er die Unterredung abrupt beendet. Etwa, um seine Mörder zu treffen?
Die Treppe mündete in einem schmalen, steilen Niedergang, wie man ihn auf Schiffen findet. Die letzten Stufen waren aus Stahl, ebenso wie die Tür an ihrem Ende. An dieser klebte ein weiterer Zettel mit dem Turmsymbol und einer Nachricht darunter. Tim kletterte höher, um den Text entziffern zu können. Drei oder vier Stufen fehlten ihm noch, als er die Botschaft endlich dem Halbdunkel entreißen konnte. Ihm gefror das Blut in den Adern.
Willkommen in der Hölle
Ehe Tims Verstand irgendeine Erklärung für diesen offensichtlichen Widerspruch anbieten konnte – immerhin war er nicht in den Heizungskeller hinabgestiegen, sondern gleichsam in den Himmel –, flog über ihm auch schon das Schott auf, und zwei schwarze, vermummte Gestalten, umlodert von rotem Licht, erschienen im Türausschnitt. Die feurige Illumination erlosch, und die lebenden Scherenschnitte stiegen schneller zu ihm hinab, als er »Hilfe!« schreien konnte. Sie packten seine Oberarme, rissen ihn von den Stufen und schleppten ihn durch den Höllenschlund aufs Dach hinauf. Dort gab es keine
Weitere Kostenlose Bücher