Der Mann, der nichts vergessen konnte
Könnte es sein, dass der Professor…?
»Besser, du gehst jetzt«, mischte sich Jamila in seine Gedanken.
Überrascht sah er von dem Tischchen auf. »Ich bin doch Zeuge. Da kann ich nicht einfach…?«
»Tim!«, unterbrach sie ihn abermals. »Glaub mir, es ist besser für dich, nicht in die Angelegenheit hineingezogen zu werden. Wenn du hierbleibst, erwarten dich nur eine Menge Scherereien. Es genügt, wenn ich der Polizei Rede und Antwort stehe. Ich sage, ich hätte die Leiche allein gefunden.«
»Aber…«
»Mach dich unauffällig aus dem Staub. Ich regle das.«
Er konnte nicht klar denken. Erst die schreckliche
»Überraschung« und jetzt die langsam erkaltende Leiche zu seinen Füßen – er kam sich vor, als hätte jemand sein Gehirn mit einem Mixstab püriert. Immerhin glaubte er zu spüren, dass Jamila etwas vor ihm zu verbergen suchte. Aber was?
Fürchtete sie um die Geheimnisse des Projekts? Oder war sie gar irgendwie in den Tod des Professors verwickelt? Die Vorstellung kostete Tim fast den Verstand.
»Jetzt verschwinde endlich!«, drängte ihn Jamila ein drittes Mal.
Tim stolperte rückwärts zum Ausgang. In was war er da nur hineingeraten! Benommen wandte er sich um und lief aus dem Haus.
Er klappte den Mantelkragen hoch und zog den Kopf ein.
Tim hätte nicht sagen können, ob ihn die innere Kälte in Folge des eben Erlebten oder der nasskalte Herbstwind frösteln ließ.
Hinzu kamen die Selbstvorwürfe. Er hätte Jamila nicht allein lassen sollen. Was, wenn die Mörder noch in der Nähe waren?
Sicher hatte sie sofort die Polizei angerufen. Hoffentlich verplapperte sie sich nicht. Ein unbedachtes Wort von ihr, und die Ermittler würden auf seiner Schwelle stehen. Mit der Entfernung vom Tatort hatte er sich nicht nur einer strafbaren Handlung schuldig, sondern auch verdächtig gemacht. Alles war so schnell gegangen. Er hatte keinen klaren Gedanken fassen können.
Dafür schwirrte ihm jetzt umso mehr durch den Sinn. Vor allem der weiße Läufer und der Turm – die zwei Spielfiguren neben dem Brett gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Er wurde das Gefühl nicht los, der Professor habe ihm damit eine letzte Botschaft senden wollen. Offenbar war Zircon, was immer sie mit ihm angestellt hatten, ja noch eine Weile bei Bewusstsein gewesen, um den Code in Szene zu setzen. War er der Läufer, Tim Labin, der Schachpartner des Opfers?
Bedeutete die Nachricht, er solle sich in den Turm begeben, um… Ja, wozu eigentlich? Hatte der Professor dort den Klartext des dritten Blattes der Beale-Chiffre vor seinen Häschern versteckt? Oder einen Hinweis auf die Killer? Jamila hatte recht, seine letzten Worte deuteten auf ein tödliches Komplott mehrerer Täter hin.
Ehe sich Tim dessen bewusst wurde, befand er sich auf dem Weg zur Universitätsbibliothek. Für ihn stand außer Zweifel, welches Bauwerk das Symbol des schwarzen Turmes repräsentierte, das Hochregallager nämlich, wie Zircon den zwölfstöckigen Bibliotheksturm so salopp genannt hatte.
Etwa eine halbe Stunde nach acht traf Tim an seiner Wirkungsstätte der vergangenen Tage ein. Das imposante Gebäude war ein wichtiges Wahrzeichen der Stadt und daher auch nachts beleuchtet. An Samstagen schloss die Bibliothek allerdings nicht erst um zehn Uhr abends, sondern bereits um fünf, weshalb sie jetzt, zumal bei derart ungemütlichem Wetter, allein des Sehens würdig war. Fast allein.
Tims Blick schweifte über die Freitreppe, an der hellbraunen Backsteinfassade empor, bis in schwindelerregende Höhe. Das spitz zulaufende Ziegeldach des viereckigen Turms war oben abgeschnitten, um einer Plattform Platz zu bieten. Von dieser ragte eine Antenne in den Nachthimmel, bekrönt von einem langsam blinkenden, roten Licht, das Flugzeugpiloten zum Höher- oder Vorbeifliegen animieren sollte. Je mehr er sich dem Gebäude näherte, desto stärker kam die Froschperspektive zum Tragen – jeder Schritt schien die zwölf Stockwerke in die Länge zu ziehen. Unvermittelt blieb Tim stehen. Jetzt erst lichtete sich das Gemenge durchgequirlter Gefühle, und er konnte wieder einigermaßen klar denken.
Was suchte er eigentlich hier? Die Bibliothek hatte geschlossen, und er besaß auch keinen Schlüssel…
Er stutzte, weil sein zum Eingang schweifender Blick die Gedanken Lügen strafte: Die Tür stand einen Spaltbreit offen.
Tim zögerte. Sollte er die Polizei rufen? Oder wenigstens bis zum Morgen warten? Er schüttelte den Kopf. Nein. Hier hatte jemand die Regeln des
Weitere Kostenlose Bücher