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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Festbeleuchtung wie an der Gebäudefassade weiter unten, sondern nur pfeifenden Wind und Dunkelheit. Bis plötzlich erneut das rote Feuer aufflammte, so jedenfalls kam es Tim vor: wie ein höllisches Lodern.
    Sein Blick fegte über die etwa fünfmal fünf Schritte große Plattform. Zu sehen gab es dort nicht viel: hinter ihm eine viereckige Mittelsäule, durch die er soeben diesen Ort der Verdammnis betreten hatte, ringsherum einen Zaun und vor ihm eine dritte Gestalt, ungemein kräftig gebaut, ebenfalls schwarz gekleidet und mit einer Skimaske vermummt. In dem roten Flugverkehrsicherungslicht erschien sie ihm wie der Leibhaftige in Person. Dessen zwei Höllenhunde setzten die arme Seele vor dem Fürsten der Finsternis ab, ohne sie allerdings loszulassen.
    »Wie schön, dass Sie unsere Einladung verstanden haben und es auch gleich einrichten konnten zu kommen«, sagte der Bullige.
    Tim lief ein Schauer über den Rücken, bis in die Zehenspitzen hinab. Er kannte diese Stimme und den schweren Akzent. Es war der Grobian, von dem er sich am Mittag den Notizzettel hatte geben lassen. »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«

    »Wenn Sie Wert auf Konventionen legen, dann nennen Sie mich bei meinem Künstlernamen: Mr Pain. Ich möchte von Ihnen den Klartext der Beale-Chiffre haben, Dr. Labin«, erscholl die Antwort aus der Dunkelheit. Gleich darauf flammte erneut das diabolische Licht auf.
    »Den haben Sie doch längst aus Prof. Afsahis Haus mitgenommen«, knirschte Tim. Das Zittern in seinen Beinen wurde heftiger, seit ihm klar geworden war, wem er da gegenüberstand: Zircons Mördern. Ohne den festen Griff seiner beiden Häscher wären ihm vor Angst die Beine weggeknickt. Ihr Wortführer musste ein Psychopath sein – welcher Mann, der noch alle Tassen im Schrank hatte, nannte sich Mr Pain – Herr Schmerz?
    Selbiger erklärte: »Der alte Perser hat uns nur das Blatt III ausgehändigt. Wir wollen aber den ganzen Text.«
    »Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen…« Eine Faust von rechts traf Tims Magen. Er hatte das Gefühl, sämtliche Luft sei mit einem Schlag aus seinem Leib entwichen, und das Schlimme war, sie schien auch nicht mehr dahin zurückkehren zu wollen. Japsend rang er nach Atem.
    »Falsche Antwort«, sagte Mr Pain ruhig. »Ich weiß, dass Sie die Chiffren entziffert haben.«
    Tim war der Panik nahe. Es bedurfte nicht allzu großer Fantasie, sich den weiteren Fortgang des Abends vorzustellen.
    Diese Sadisten hatten heute schon einen Menschen umgebracht, und sie würden nicht zögern, einen weiteren Mord zu begehen. Er schüttelte den Kopf und krächzte: »Nicht die Chiffren, sondern nur das dritte…«
    Ein weiterer Fausthieb aus derselben Ecke machte sein Plädoyer zunichte. Er stieß einen erstickten Laut aus. Liebend gerne hätte er geschrien, war dazu aber nicht imstande.
    »Sie würden jetzt sicher gerne schreien, sind dazu aber nicht fähig«, erklärte Mr Pain. Er klang auf eine süffisante Art belustigt. »Selbst wenn Sie es könnten, würde Sie hier oben niemand hören – der Wind trägt alle Stimmen fort. Sie müssen nämlich wissen, dass ich ein Experte auf meinem Gebiet bin, ein wahrer Künstler. Ich kann einen Menschen auf tausend Arten quälen, ihn foltern, verstümmeln oder töten, ganz, wie es die Situation erfordert. Einige der exotischeren Techniken sind kaum als äußere Ursache nachzuweisen. Bei Ihnen genügt vermutlich die grobe Methode: Erst brechen meine Kameraden Ihnen ein paar Rippen, dann sämtliche Finger, es folgen die Beine und die Arme…«
    »Aber wenn ich es Ihnen doch sage, ich habe das erste Blatt noch nicht entziffert«, presste Tim zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Von links traf ihn ein Ellenbogen zwischen die Rippen. Diesmal blieb ihm genug Luft, um zu schreien.
    »Dr. Labin«, ermahnte ihn der Aktionskünstler unwirsch.
    »Unterbrechen Sie mich niemals. Und tischen Sie mir keine Lügen auf. Zufällig weiß ich, dass Sie Ihrer Assistentin heute in der Bibliothek eine Nachricht hinterlassen haben: ›Bin gleich wieder da und entziffere die Chiffre für dich.‹ Waren das nicht Ihre Worte?«
    Tim schalt sich einen Narren, weil er die Notiz direkt auf den Block des Bulligen gekritzelt hatte, wo sie der Kugelschreiber zwangsläufig auf die darunterliegenden Blätter durchdrücken musste. »Nein«, knirschte er. »Ich habe geschrieben, ich würde die Chiffre übersetzen. Von entziffern war nicht die Rede. Ich wollte Mrs Jason damit nur

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