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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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beeindrucken.«
    Mr Pain nickte. Er näherte sich dem Delinquenten bis auf wenige Zentimeter und musterte ihn im roten Blinklicht. Trotz Wollmaske und Wind glaubte Tim den schlechten Atem seines Gegenübers zu riechen. In dessen derbe Stimme mischte sich eine schwärmerische Note. »Ihre Antwort klingt plausibel.
    Jamila ist eine Blume, die alle Lilien des Feldes erblassen lässt.

    Viel zu schade für Freaks wie Sie.« Unvermittelt wurde der Ton des Peinigers wieder rauer. »Abgesehen davon glaube ich Ihnen nicht.«
    Tim packte verzweifelte Wut. »Das ist nicht mein Problem…«, spie er dem Foltermeister ins Gesicht, und schon wurde das seine von einem weiteren Schlag getroffen. Er hatte das Gefühl, ihm sei das Trommelfell geplatzt, obwohl es nur eine Ohrfeige des Kerls von links war. Durch ein hässliches Pfeifen hindurch hörte er die drohende Stimme des Chefsadisten.
    »Das ist Ihre letzte Chance, einigermaßen heil aus der Sache herauszukommen, Doktorchen. Wir sind maskiert. Es ist also nicht nötig, Sie zu töten, wenn Sie uns geben, was wir von Ihnen wollen. Afsahi hat mir glaubhaft versichert, Sie hätten beide bisher unentschlüsselten Blätter entziffert. Es nützt also nichts, uns weiter zu belügen.«
    Das rote Licht ging an.
    Das rote Licht ging aus.
    Unterdessen war Tims Angst ebenfalls in den roten Bereich gewandert. Was sollte er darauf erwidern? Vermutlich hatte sich der Professor von seiner Lüge irgendeinen Vorteil erhofft.
    Seine letzten Worte waren ja unmissverständlich: Meine Familie ist in ihrer Gewalt. Möglicherweise hatten die Kerle auch ihn gequält. Unter der Folter sagte man bekanntlich alles, was der andere hören wollte.
    »Was ist jetzt? Rücken Sie die entzifferte Chiffre raus, oder sollen meine Freunde ihre Glacehandschuhe ausziehen?«, knurrte Mr Pain.
    Tim öffnete den Mund – seine rechte Gesichtshälfte brannte wie Feuer –, er benetzte mit der Zunge die Lippen, suchte nach Worten, die ihn vor weiteren Kostproben von Mr. Pains »Künsten« bewahren konnten, aber ihm fiel nichts Überzeugendes ein.

    Dem Anführer riss der Geduldsfaden. Er gab dem Schergen rechts von Tim einen Wink und befahl: »Brich ihm die Rippen.
    Aber schön langsam, eine nach der anderen.«
    Der andere Henkersknecht packte auch Tims rechten Arm, damit sein Kumpan freie Hand hatte. Letzterer baute sich vor dem Delinquenten auf, legte seine Faust auf dessen rechten Rippenbogen und holte aus.
    Das rote Licht erlosch.
    »Bitte nicht!«, bettelte Tim. Die dunkle Galgenfrist verrann viel zu schnell.
    Und das rote Licht ging wieder an.
    Tim schloss die Augen und bereitete sich auf infernalische Qualen vor.
    »Warte!«, rief der Bullige unvermittelt.
    Überrascht riss Tim die Augen auf, gerade rechtzeitig, um das Herabsinken der Hand seines Folterknechts zu sehen.
    »Ich habe mich anders entschieden«, erklärte Mr Pain seinen Helfern leichthin. »Wir wollen den heutigen Abend unter ein Motto stellen. Ihm soll ein Turm zum Verhängnis werden, genauso wie Afsahi. Schiebt ihn über die Balustrade. Wenn er mit dem Kopf nach unten hängt, wird er uns die Wahrheit sagen. Oder er fällt.«
    »Ich kann Ihnen nichts verraten, was ich nicht weiß«, jammerte Tim.
    Seine beiden Folterknechte focht das nicht an. Im roten Puls der Hölle hievten sie ihn in die Höhe und trugen ihn zu der Balustrade, hinter der es nach ein paar Ziegelreihen zwölf Stockwerke in die Tiefe ging. Tim fing wieder an, sich zu wehren – seine Todesangst war stärker als die Furcht vor den Disziplinierungsmaßnahmen der Sadisten. Er trat wild mit den Beinen um sich. Die Strafe folgte auf dem Fuß. Ein wohldosierter Schlag gegen die Schläfe machte ihn hinreichend benommen, um seinen Willen zur Gegenwehr, nicht aber sein Bewusstsein zu lähmen. Er kam sich vor, als stehe er neben sich, und sah durch dicke Nebelschwaden zu, wie die beiden Häscher ihn mit dem Kopf voran langsam über die Kante schoben.
    »Frischt das Ihr Gedächtnis auf?«, fragte Mr Pain.
    »Ich bin der Mann, der nichts vergessen kann«, wimmerte Tim, nicht etwa aus Galgenhumor oder Aufsässigkeit, sondern weil seine mentalen Reflexe nichts anderes zuließen. Tränen der Verzweiflung liefen ihm über die Wangen.
    »Lasst ihn baumeln«, befahl der Oberfolterer.
    Seine Büttel schoben weiter.
    Tim begann um Gnade zu betteln. Er war nie ein Held gewesen. Die nackte Angst raubte ihm fast die Besinnung.
    Anstatt den Verbrechern irgendeine Lügengeschichte aufzutischen, wiederholt er

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