Der Mann, der niemals lebte
bester Schutz, weil die sie gar nicht auf die Idee kommen ließ, es könnte irgendwie gefährlich sein, so spät am Abend noch in einem palästinensischen Flüchtlingslager zu sitzen. Aber vielleicht war es auch etwas anderes. Vielleicht gehörte sie ja wirklich hierher und noch an viele andere Orte, die Ferris verschlossen blieben.
Der Cafébesitzer brachte ihnen türkischen Mokka, bitter und süß zugleich wie dunkle Schokolade. Sie tranken ihn langsam, und Ferris gelang es, sich ein wenig zu entspannen.
»Warum hast du eigentlich keinen Freund?«, fragte er. »So eine schöne Frau wie du kann sich doch vor Angeboten sicher kaum retten.«
Erst gab sie keine Antwort. Sie trank den letzten Schluck Kaffee und hielt die Tasse schräg, damit der Kaffeesatz kurz an der Seitenwand trocknen konnte. Dann hielt sie die Tasse ins Licht wie eine Wahrsagerin.
»Und? Wirst du Glück haben?«, fragte Ferris.
»Möglich. Falls man daran glaubt, dass man das Glück aus dem Kaffeesatz lesen kann. Mein Ex-Freund glaubte das. Und noch eine ganze Menge anderen Unsinn.«
»Dann hattest du also mal einen Freund.«
Alice wandte den Blick ab und schaute die kleine Straße entlang in die dunklen Schatten des Flüchtlingslagers. Erst nach schier endlosen Sekunden drehte sie sich wieder zu Ferris um.
»Ich habe ihn geliebt«, sagte sie. »Er war Palästinenser. Sehr stolz und sehr zornig. Ich habe ihn geliebt, aber er hat mich misshandelt.«
Ferris streckte eine Hand nach ihr aus, doch sie war zu weit weg. »Was heißt das, er hat dich misshandelt?«
»Alles, was man sich so vorstellt, und noch ein bisschen mehr.«
»Großer Gott. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass dir überhaupt jemand wehtun kann.«
»Er konnte nicht anders. Er war so furchtbar zornig. Es lag nicht an mir persönlich, sondern an der ganzen Situation. Das habe ich vorhin versucht, dir zu erklären. Die Menschen hier sind wirklich wütend auf uns. Wir glauben immer, dass sie es stillschweigend hinnehmen, wenn wir sie um ihr Land betrügen und sie dann auch noch wie den letzten Dreck behandeln. Aber das tun sie nicht.«
»Warum bist du danach nicht aus Jordanien fortgegangen? Ich meine, wie konntest du noch hierbleiben, nachdem er dir das angetan hat?«
»Ich bin nun mal ein Dickkopf, Roger. Mir scheint, das haben wir beide gemeinsam. Und je mehr ich über ihn und seinen Zorn nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich nicht weglaufen durfte. Das ist es doch genau, was er erwartet hätte, was all die Araber erwarten. Dass wir so tun, als würden wir uns für sie interessieren, und dann weglaufen, sobald uns das Leben hier einmal ein bisschen übel mitspielt. Deshalb bin ich geblieben. Und weißt du, wie ich schließlich darüber hinweggekommen bin? Ich habe die Menschen, die mir wehgetan haben, einfach weiterhin geliebt. Ich wollte nicht gehen. Und ich werde nicht gehen.«
Ferris spürte das ungewohnte Brennen von Tränen in den Augen. Er wischte sie weg und versuchte, es vor Alice zu verbergen, doch sie griff nach seiner Hand und lächelte auf eine Weise, wie sie es bisher noch nie getan hatte. Er küsste sie auf die Wange. Seine eigene war noch ein wenig feucht.
Sie hatten beide keine rechte Lust zu gehen. Ferris stellte Alice Fragen über ihre Arbeit in den Flüchtlingslagern, und
Alice beantwortete sie ihm, so gut sie konnte. Sie war hauptsächlich mit der Logistik hinter den Hilfsmaßnahmen beschäftigt: Sie kaufte Schulbücher und Medikamente, finanzierte Wasserprojekte und Zahnarztpraxen, organisierte Stipendienprogramme an amerikanischen Universitäten. Das war ihr Job, und sie machte ihn gut. Aber der lebhafte Ton in ihrer Stimme offenbarte auch, dass es das Einzige auf der Welt war, was ihr wirklich etwas bedeutete.
Ferris schaute die heruntergekommene Straße entlang, hin zu den dunklen Häusern und den verborgenen Orten, die Außenstehenden auf ewig verschlossen blieben. Wie gern hätte er Alices Überzeugung geteilt, dass die anständigen Menschen sich irgendwann durchsetzen würden, wenn man ihnen nur genügend Schulbücher und Zahnarztpraxen besorgte. Doch dafür wusste er einfach viel zu viel. In dieser Welt brodelten Hass und Rachsucht. Den Menschen hier war Schaden zugefügt worden, von Amerikanern, Israelis und auch von anderen Arabern. Sie hatten ihr Land verloren und hausten wie die Ratten in einem Käfig. Und Alice, so einfühlsam und intelligent sie auch sein mochte, konnte das Grauen nicht ermessen, das an Orten wie diesem
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