Der Mann, der niemals lebte
oder ein Kino am Broadway gegangen. Alles wäre ihm recht gewesen, solange sie dabei nur vergessen konnten, dass sie inmitten dieser Sandhügel tagtäglich auf einem Pulverfass lebten. Er verließ den Konferenzraum, um den Whisky zu holen, während Hoffman auf seinem Stuhl sitzen blieb und wie ein dicker Anti-Buddha selig vor sich hin lächelte.
Amman
Alice Melville musste zur Beerdigung ihrer Tante nach Boston, und Ferris brachte sie zum Flughafen. Sie trug einen lindgrünen, ausgestellten Rock zu einer weißen Bluse und hatte sich eine Schleife ins Haar gebunden. Im Grunde fehlte nur noch eine Brosche, um das brave Outfit perfekt zu machen. »Wozu diese Schulmädchennummer?«, erkundigte sich Ferris. Das war eine Seite, die er noch gar nicht an ihr kannte. »Damit meine Mutter keine Angst bekommt«, antwortete Alice. »Sie hat sich überhaupt nur deshalb mit meinem Job in Jordanien abgefunden, weil sie weiß, dass der König in Deerfield zur Schule gegangen ist.«
Alice hatte sehr an der verstorbenen Tante gehangen, einer engagierten Bürgeranwältin, die Alices Entscheidung, nach Jordanien zu gehen, sehr begrüßt hatte, während alle anderen sie für verrückt erklärten. »Tante Edith war noch viel durchgeknallter als ich«, schrieb sie Ferris am Abend ihrer Ankunft in den USA in einer Mail. In den ersten paar Tagen schickte sie ihm noch ein paar lustige Nachrichten, darunter auch einen kleinen Zeichentrickfilm, den sie im Internet gefunden hatte:
Die USA treiben Osama bin Laden in den Wahnsinn, indem sie ihn mit Werbeanrufen terrorisieren. Dann schwieg sie plötzlich. Sie war wohl zu beschäftigt oder auch zu traurig über den Tod ihrer Tante, um noch mehr zu schreiben. Vielleicht hatte sie Ferris aber auch einfach nur vergessen, jetzt, wo sie wieder zu Hause war, im Land der Privilegierten.
Ferris vergrub sich in seiner Arbeit. Hoffmans Besuch hatte ihm einen Schock versetzt und ihn daran erinnert, dass er in einem Bereich arbeitete, in dem jedes Mittel recht war, solange es nur funktionierte. Er fragte sich, ob er tatsächlich alles in seiner Macht Stehende tat, um in Süleymans Netzwerk einzudringen. Im Grunde hatte er ohnehin nur einen Punkt, an dem er den Hebel ansetzen konnte: das sichere Haus in Amman, wo einer von Süleymans Helfershelfern Nizar rekrutiert hatte, den glücklosen jungen Iraker, der sich keine vierundzwanzig Stunden nach seiner ersten Begegnung mit Ferris hatte umbringen lassen. Es handelte sich um eine geräumige Villa am Jebel Akhtar, dem »Grünen Berg« am südlichen Stadtrand von Amman. Seit Ferris die Information weitergegeben hatte, ließ die CIA sie rund um die Uhr überwachen. Außerdem hatte sie eine SIGINT-Operation eingeleitet, um die Telefonleitung anzuzapfen, und über Data-Mining jedes noch so winzige Detail über die jordanische Familie zusammengetragen, die dort wohnte. Aber bisher hatten all diese Aktivitäten noch keine Verbindung zur al-Qaida zutage gefördert.
Das Haus war ein schlichtes Gebäude aus Betonblöcken und wurde von einer schmutzigen weißen Steinmauer umgeben. Es gehörte einem etwa sechzigjährigen Jordanier namens Ibrahim Alousi, der für eine arabische Baufirma in Kuwait tätig gewesen und erst kürzlich pensioniert worden war. Seine beiden
Söhne arbeiteten in Amman als Bauingenieure bei derselben Firma und wohnten mit ihren Frauen und Kindern ebenfalls im Haus. Obwohl alle Familienmitglieder gläubige Muslime waren, die fast jeden Freitag in die Moschee gingen und jeden Tag bei Sonnenaufgang für das Fajr-Gebet aufstanden, unterhielten sie keinerlei erkennbare Verbindungen zu den jordanischen Salafisten. Und trotz eines erheblichen Aufwandes war es Ferris’ Leuten bisher nicht gelungen, auch nur einen Hinweis auf irgendwelche Kontakte zu Süleyman oder seinem Netzwerk zu finden. Vielleicht war die Familie Alousi ja ganz besonders vorsichtig – auf jeden Fall waren die Ergebnisse so dürftig, dass der Einsatzleiter der Nahost-Abteilung Ferris inzwischen nahegelegt hatte, die Überwachung demnächst zu beenden. Sie kostete viel Geld und warf keine Informationen ab. Aber Ferris war noch nicht bereit, seine einzige konkrete Spur, die zudem mehrere Menschen das Leben gekostet hatte, freiwillig wieder aufzugeben. Außerdem fand er die Familie Alousi einfach zu makellos – so demonstrativ unauffällig, dass es schon wieder verdächtig wirkte.
Und so beschloss Ferris, dass es an der Zeit war, in die Offensive zu gehen. Die ganze Zeit hatte er
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