Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
und sank auf dem Stuhl zusammen. »Mein Fehler? Aber … warum denn mein Fehler?«
»Weil der Mann, über den dein Vater so tiefgründige Dinge zu erzählen weiß, Abraham Lincoln, der Junge, der in einer Holzhütte an der Grenze zur Wildnis geboren wurde und zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika aufstieg, dieser Mann, hat zwar fünf verschiedene Lehrer in zehn Jahren gehabt, hat aber alles in allem nicht mehr als ein Jahr Schulunterricht genossen.«
Henry schwieg. Die Klasse hatte erschrocken verfolgt, wie Tom lauter und lauter wurde und den Kopf immer näher zu Henry hinunterbeugte. Jetzt saß der Junge eingesunken an seinem Tisch, den Rücken gegen die Bank gepresst, die Augen weit aufgerissen.
Tom grinste. »Was sagst du dazu, Henry Gustavson?«
»Wow … das ist … Nur ein Jahr?«
Henry starrte Hilfe suchend zu seinen Mitschülern, die sich eingeschüchtert abwandten. Er zuckte zusammen, als Toms Zeigefinger in die Höhe schoss.
»Nur ein Jahr! Und wenn ich ehrlich bin und meine Tage in der Schule zusammenzähle, waren es bei mir nicht viel mehr.Der Präsident und ein Mann aus seiner nächsten Umgebung! Kein Studium, keine Universität! Keine vier oder fünf Jahre Schule! Das sollte dir zu denken geben, Henry Gustavson! Euch allen …«, Tom drehte sich vor Henry im Kreis und wies mit dem Zeigefinger über die Bankreihen, »Euch allen sollte das zu denken geben! Und damit vielleicht doch noch ein bedeutender Mann aus dir wird, Henry Gustavson, bist du für heute aus dem Unterricht entlassen und gehst nach Hause zu deinem Vater, damit ihr euch gegenseitig mit euren schlauen Sprüchen auf die Nerven fallen könnt.«
Henry blickte wieder unsicher zu dem Jungen, der neben ihm saß. Der zuckte mit den Schultern. Henry griff nach seiner Schulfibel. »Ich soll nach Hause gehen, Sir?«
»Oh ja, und vielleicht denkst du darüber nach, ob es für deine Zukunft so gut ist, morgen wiederzukommen.«
Henrys Augen schimmerten feucht, er blinzelte, schnappte sein Schulheft und die Fibel und verließ mit gesenktem Blick den Raum. In der Klasse herrschte atemlose Stille.
Tom schritt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, langsam zur Tafel zurück. Er setzte ein gewinnendes Lächeln auf und blickte aufmunternd in die Klasse. »Nur ein Jahr Schule. Aber Präsident geworden. Das ist doch was, oder nicht? Na, wer kennt noch eine Geschichte über Abraham Lincoln?«
Das Mädchen mit den roten Haaren in der ersten Reihe hob die Hand. Sie lächelte Tom an, Bewunderung lag in ihrem Blick.
Tom nickte ihr zu. »Ja?«
»Stimmt es, dass er als kleiner Junge seine Mutter verloren hat, weil sie vergiftete Milch getrunken hat?«
Tom blickte zu Boden. Er nickte langsam. Ein Junge, der seine Mutter verloren hatte. Keine Geschichte, die er gern erzählen wollte.
»Ja. Das stimmt. Die Kuh der Lincolns hatte Wasserdost gefressen, und damit wurde ihre Milch giftig. Der nächste Doktor lebte vierzig Meilen entfernt. Sie ist gestorben, und der neunjährige Abraham hat seinem Vater geholfen, ihren Sarg zu schreinern. Es gab in der ärmlichen Blockhüttensiedlung der Lincolns nicht einmal einen Pfarrer, um die Totenmesse zu halten. Monate später, als ein Wanderpriester vorbeikam, hielt der junge Abraham Lincoln den Mann auf und bat ihn, eine Messe am Grab seiner Mutter abzuhalten. Das war ihm sehr wichtig.«
In der Klasse wurde es still. Das rothaarige Mädchen blickte traurig auf ihre Schulfibel. Tom dachte an Becky, die auch in einer dieser Bänke gesessen hatte, und er dachte an Dobbins’ altes Anatomiebuch und an den Riss, den Becky versehentlich in das Buch gemacht hatte und für den Tom dann von Mr Dobbins Prügel bezogen hatte, weil er die Schuld auf sich genommen hatte.
Er lächelte das Mädchen, das die Frage gestellt hatte, an. Sie war hübsch, sehr hübsch, sie würde eine wahre Schönheit werden. »Eine traurige Geschichte, ja. Aber es gibt auch eine Menge lustige Sachen von Präsident Lincoln zu erzählen, wie die Geschichte mit den kleinen Vögeln, die aus dem Nest gefallen waren, und wie Abraham auf einen Baum geklettert ist, um sie wieder hineinzulegen. Was glaubst du wohl … Wie heißt du, Mädchen?«
»Sally Austin, Sir.«
»Also Sally, was glaubst du wohl, warum –« Tom stockte. Sally Austin. Das Mädchen, das von Huck auf dem Gemeindefest überfallen worden war.
Sie lächelte ihn an, ihre rosige Haut glühte. »Warum was, Mr Sawyer?«
Tom blinzelte, dann wandte er den Blick von ihr
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