Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
kann, wenn der Patient in der Lage ist, ein reiches und erfülltes Leben zu führen, und daß das «existentielle» Gleichgewicht, die innere Ausgeglichenheit eines solchen Lebens eine schwere physiologische Unausgewogenheit aufheben kann. Da ich das Gefühl hatte, daß diese Möglichkeit auch bei Ray bestand und daß er, ungeachtet seiner Worte, nicht unwiderruflich auf exhibitionistische oder narzißtische Weise in seiner Krankheit gefangen war, schlug ich vor, wir sollten drei Monate lang jede Woche einmal ein Gespräch führen. In diesem Zeitraum sollte er versuchen, sich ein Leben ohne das Tourettesche Syndrom vorzustellen; wir würden (wenn auch nur in Gedanken) erkunden, was ein Leben ohne die durch das Tourettesche Syndrom hervorgerufenen abnormen Attraktionen und Sensationen ihm zu bieten hatte; wir würden untersuchen, welche Rolle die Krankheit für ihn spielte, welche wirtschaftliche Bedeutung sie in seinem Leben hatte und wie er ohne sie zurechtkäme. Das alles wollten wir in diesen drei Monaten klären und danach einen weiteren Versuch mit Haldol unternehmen.
Es folgten drei Monate tiefgreifender und geduldiger Erkundung, in deren Verlauf wir (oft gegen Rays starken Widerstand und trotz seiner ausgeprägten Neigung zu gehässigen Bemerkungen, trotz seines mangelnden Vertrauens in sich selbst und in das Leben) zahlreiche gesunde Potentiale entdeckten - Potentiale, die in den tiefsten, verborgensten Bereichen seiner Persönlichkeit zwanzig Jahre eines von schwerer Tourettescher Krankheit geprägten Daseins überdauert hatten. Diese Erkundung war in sich selbst schon erregend und ermutigend und gab uns wenigstens eine schwache Hoffnung. Aber was dann geschah, übertraf all unsere Erwartungen: Was sich anfangs als lediglich vorübergehende Besserung ankündigte, wurde zu einer grundlegenden, dauerhaften Umformung seines Reaktionsvermögens. Denn als ich Ray wieder Haldol verabreichte, in derselben winzigen Dosis wie zuvor, verschwanden die Tics, ohne daß nennenswerte unerwünschte Nebenwirkungen auftraten - und daran hat sich während der letzten neun Jahre nichts geändert.
In diesem Fall wirkte das Haldol «Wunder» - allerdings nur, weil ein Wunderjetzt zugelassen wurde. Anfangs hatte sich das Medikament fast katastrophal ausgewirkt - zum Teil zweifellos aus physiologischen Gründen, aber auch, weil jede Art von «Heilung», jeder Verzicht auf das Tourettesche Syndrom, zu diesem Zeitpunkt verfrüht und wirtschaftlich unmöglich gewesen wäre. Da Ray seit dem vierten Lebensjahr an dieser Krankheit litt, hatte er keine Erfahrung mit einem normalen Leben sammeln können; er war hochgradig abhängig von seinem exotischen Leiden und hatte es, wie kaum anders zu erwarten, auf unterschiedlichste Art und Weise eingesetzt und sich zunutze gemacht. Er war noch nicht bereit gewesen, sich von seiner Krankheit zu trennen, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß er diese Bereitschaft ohne die drei Monate intensiver Vorbereitung und die schwere und konzentrierte tiefenpsychologische Arbeit niemals entwickelt hätte.
Die vergangenen neun Jahre sind für Ray alles in allem eine glückliche Zeit gewesen: Das Ausmaß seiner Befreiung hat alle Erwartungen übertroffen. Nachdem er zwanzig Jahre lang im Touretteschen Syndrom gefangen und durch die Krankheit zu allem möglichen gezwungen war, hat er jetzt einen Freiraum und eine Bewegungsfreiheit, die er nie (oder, während unserer Analyse, höchstens theoretisch) für möglich gehalten hätte. Er führt eine liebevolle, stabile Ehe und ist inzwischen auch Vater geworden; er hat viele gute Freunde, die ihn als Menschen, und nicht bloß als originellen Clown lieben und schätzen; er ist ein angesehener Bürger seiner Gemeinde und bekleidet an seinem Arbeitplatz eine verantwortliche Stellung. Und doch gibt es Probleme - Probleme, die vielleicht untrennbar mit dem Touretteschen Syndrom und dem Haldol verbunden sind.
Während der Arbeitszeit, an Werktagen, ist Ray durch das Haldol «nüchtern, solide, spießig» - mit diesen Worten beschreibt er sein «Haldol-Selbst». Seine Bewegungen und Urteile sind langsam und überlegt, ohne die Ungeduld und Sprunghaftigkeit, die er vor der Behandlung mit Haldol an den Tag legte, allerdings auch ohne die genialen Improvisationen und Eingebungen, die ihn früher überkamen. Selbst seine Träume haben sich verändert: «Bloß noch schlichte Wunscherfüllungen», sagt er, «ohne die Ausschweifungen und Extravaganzen, die das
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