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Der Mann, der wirklich liebte

Der Mann, der wirklich liebte

Titel: Der Mann, der wirklich liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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waren, von ihrer Zeit im Wachkoma. Sie erinnerte sich an viele Dinge, die um sie herum passiert waren. Zu seinem Entsetzen musste Röhrdanz erfahren, dass sie alles mit angehört hatte, was die Ärzte gesagt hatten:
    »Sie wird keine drei Wochen überleben.«
    »Wir verlegen sie zum Sterben zurück nach Leverkusen.«
    »Sie müssen ihr sagen, dass sie und das Baby nicht überleben werden.«
    Und später: »Ihr Gehirn ist komplett zerstört. Wenn sie jemals wieder aufwacht, wird sie ein schwerer Pflegefall bleiben. Sie wird sich nicht mehr an ihren Mann und ihre Kinder erinnern. Der Junge wird schwerstbehindert zur Welt kommen.«
    Sie hatte innerlich protestiert und geschrien: »Ich erinnere mich genau! Ich weiß, wer ihr seid! Ich bin nicht verblödet!«
    Um nicht wahnsinnig zu werden, hatte sie eine Zeit lang das Alphabet rückwärts aufgesagt. Sie konnte es bald schneller buchstabieren als vorwärts. Dann nahm sie sich Gebete vor. Erst rückwärts, dann vorwärts. Gedichte, an die sie sich erinnerte. Kinderlieder. Sie zwang ihr Gehirn zu komplizierten Rechnungen. Sie zwang sich während der Schwangerschaft, auf Beruhigungsmittel zu verzichten. Sie redete innerlich pausenlos mit Patrick, ihrem Ungeborenen. Als die Geburt eingeleitet worden war, hatte ihr der Gynäkologe mit einer dicken langen Nadel bei vollem Bewusstsein in den Bauch gestochen. Dabei hatte er spöttisch zu seinem Kollegen gesagt: »Wenn das Kind überlebt, fress ich einen Besen.«

    »Ich habe vor Schmerzen und Angst geschrien wie am Spieß«, erzählte Angela ihrem Mann unter Tränen. »Aber niemand konnte mich hören.«
    Das Baby war gesund. Röhrdanz hatte Angela zu ihm gefahren. Das Bewusstsein, es gegen alle Vorhersagen geschafft zu haben, seine täglichen Besuche bei ihr, das Spielen ihrer Lieblingslieder von Udo Jürgens, das nächtliche Vorlesen aus ihren Lieblingsromanen - all das hatte sie aufgesogen wie ein Schwamm.
    »Das Schlimmste waren meine Panikattacken, wenn du nachts gegangen bist«, berichtete Angela. »Manchmal war das Fenster nicht richtig zu. Oder jemand hatte vergessen, das Notlicht anzulassen. Diese rabenschwarze Finsternis war furchtbar.«
    Letzteres erzählte sie Röhrdanz während einer finsteren, mondlosen Nacht. Der kleine Leon hatte gejammert, weil er nicht allein im Dunkeln gelassen werden wollte. Er konnte nicht einschlafen und weinte, bis seine Großeltern aufstanden und zu seinem Bettchen gingen. »Genauso ist es mir ergangen. Ich weiß, wie sich so ein hilfloses Menschlein fühlt. Er ist in seinem Schlafsack und seinem Gitterbett gefangen, vollkommen auf uns angewiesen. Dass wir hereinkommen, Licht anmachen, ihn streicheln und trösten. Mein Gott, wie grausam solche Verlassensängste sein können …«
    Mit diesen Worten nahm sie den tränenüberströmten Leon hoch, setzte ihn liebevoll auf ihren Schoß und strich ihm die schweißverklebten Haare aus der Stirn. »Ich kenne deine Ängste und Albträume. Ich werde dich niemals im Dunkeln allein lassen, versprochen.«

    In solchen Momenten wurde Röhrdanz noch einmal mit aller Macht klar, was seine Frau durchgemacht hatte. Vollkommen auf andere Menschen angewiesen zu sein, sich nicht rühren zu können, aber alles bei vollem Bewusstsein mitzuerleben, muss die allergrößte Qual für einen Menschen sein.
    »Du hast mich nie vergessen und nie verlassen«, murmelte Angela unter Tränen. »Du hast nie aufgehört, an mich zu glauben. Und deshalb habe ich auch nie aufgehört, an dich zu glauben.«
    Die beiden nahmen sich zärtlich in die Arme, und bei dieser Umarmung seiner Großeltern beruhigte sich auch Leon wieder. Er legte sein Köpfchen an Angelas Schulter und schlief ein.
     
    N ur Denise machte ihnen Kummer. Drei Jahre waren nach Leons Geburt inzwischen vergangen und Denise hatte ihre beiden Söhne vollständig ihrer Mutter überlassen und war endgültig ausgezogen. Sie hatte die Schule nicht abgeschlossen und keine Lehrstelle gefunden.
    Röhrdanz war hin- und hergerissen zwischen Mitleid, Selbstvorwürfen, Zornesausbrüchen und dem verzweifelten Wunsch, das Mädchen »auf den rechten Weg« zurückzuholen.
    Angela hatte geschlichtet, geweint und gebettelt, er möge sich nicht aufregen. Die Angst vor einem weiteren Herzinfarkt, vor einem völligen Zusammenbruch, nahmen ihr die Luft zum Atmen. Was sollte sie, Angela, eine behinderte Frau ohne eigenes Einkommen, aber dafür
mit fünf Kindern, nur ohne ihren Mann anfangen? Sie waren auf sein Funktionieren

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