Der Mann, der wirklich liebte
den Mund. Sie schien ihr grausames Spiel von eben vergessen zu haben.
»Kann schon sein.«
»Hundert Jahre?« Das Stimmchen von Denise war dünn und hoch geworden.
Röhrdanz biss sich auf die Unterlippe. »Vielleicht nicht ganz so lange …«
»Aber bis zu meinem Geburtstag?«
Röhrdanz zwang sich, stark zu bleiben. »Ach, stimmt, da hat ja bald jemand Geburtstag. Was wünschst du dir denn?«
»Das Barbie-Puppenhaus. Mit Barbie und Ken.«
»Hm«, meinte Röhrdanz. »Da muss ich die Mama fra…« Er verstummte.
»Das hab ich mit Mama im Werbefernsehen gesehen.« Denise schenkte ihrem Vater ein zuckersüßes Lächeln. Ihre Milchzähnchen strahlten.
»Na, dann muss ich wohl auch mal Werbefernsehen schauen. Damit ich weiß, welches du meinst.«
»Und dann musst du die Mama wachküssen.« Denise sah ihren Vater erwartungsvoll an.
»Mach ich. Ich gebe mir alle Mühe.«
Das Baby bediente sich inzwischen selbst, sein ganzes Gesicht war breiverschmiert. Selbst in den Augenbrauen hing das Zeug, aber wenigstens war der Kleine ruhig.
»Da hast du recht«, sagte Röhrdanz, als wäre ihm plötzlich etwas aufgegangen. »Ich muss sie bald wachküssen.« Er beugte sich zu seinem Töchterchen hinüber und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange. »Du bist schlau, weißt du das?«
»Aber erst Zähne putzen«, sagte Denise. »Sonst will die Mama lieber weiterschlafen. Kannst du mir glauben.«
» S o, Herr Röhrdanz. Ich werde Ihnen jetzt mal in aller Ruhe erklären, was mit Ihrer Frau los ist. Nur, damit Sie sich keine falschen Hoffnungen machen.«
Der Oberarzt zog Röhrdanz von Angela weg. Seit Stunden hatte er an ihrem Bett gesessen und leise auf sie eingeredet. Er hatte ihr von den Kindern erzählt, von Denises viertem Geburtstag, der in sechs Tagen bevorstand, dass er ihr das Puppenhaus gekauft hatte, das sie sich so sehnlich wünschte.
»Ich wusste nicht, ob ich nicht doch lieber das aus Holz nehmen soll. Das ist ja pädagogisch wertvoller. Aber sie will unbedingt dieses Plastikzeug.«
Röhrdanz hatte natürlich keine Antwort erhalten, nur das Beatmungsgerät war zu hören.
»Du musst wieder zu uns zurückkommen, Angela. Die Kleine braucht dich. Philip ist bei deiner Mutter. Seit ich versucht habe, ihm die Windeln zu wechseln, und er mir dabei auf meine Bürokrawatte gepinkelt hat, halte ich das für die bessere Idee. Helga macht das gern. Sie hat den alten Laufstall von dir und Dagmar vom Dachboden geholt …«
»Herr Röhrdanz. Was Sie da tun, hat keinen Zweck.« Röhrdanz versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er jeden Moment die Fassung verlieren würde.
»Aber wieso, sie kann mich doch hören«, flüsterte er, denn seine Frau lag ja nur durch einen Vorhang getrennt nebenan.
»Wenn, dann höchstens rein akustisch. Aber den Sinn Ihrer Worte bekommt sie bestimmt nicht mit.« Der Arzt gab sich nicht die geringste Mühe, seine Stimme zu senken.
»Das sehe ich anders. Die versteht alles, sie weint, wenn ich von den Kindern spreche.«
Dr. Hiller sah ihm nicht die Augen. »Guter Mann, Sie überschätzen Ihre Frau. Ihr Gehirn hat massive Schäden erlitten. Sie nimmt Sie nicht mehr als ihren Ehemann wahr. Noch nicht mal mehr als bekannte Stimme. Allenfalls als Geräusch.«
Alle möglichen Gedanken gingen Röhrdanz durch den Kopf. Angela, nichts weiter als eine leere Hülle?
Alles Leben, alles Lachen, alle Liebe sollte für immer aus ihrem Herzen verschwunden sein?
Röhrdanz suchte Halt an der Fensterbank, sonst wäre er umgekippt.
»Meinen Sie, ich lasse sie einfach so da liegen? Sie braucht mich jetzt, und ich rede mit ihr, so viel ich will.« Sein Ton war schärfer als beabsichtigt.
»Es scheint mir eher umgekehrt zu sein, mein Lieber. Sie brauchen Ihre Frau. Und das ist ja auch verständlich, bei den kleinen Kindern zu Hause.«
»Nein. Angela braucht mich. Ich erzähle ihr alles, damit sie die Kraft findet, wieder aufzuwachen.« Flehend blickte Röhrdanz den Oberarzt an. Wenigstens das musste er ihm doch gestatten!
»Es ist aber besser für sie, wenn sie nicht mehr aufwacht. Sie würde schwerstbehindert sein. Ihr Erinnerungsvermögen ist dahin. Selbst wenn sie wieder aufwachen würde, wären Sie für sie ein völlig Fremder.«
»Das glaube ich nicht«, stammelte Röhrdanz unter Tränen. »Wir sind füreinander bestimmt. Wir haben uns gesucht und gefunden.«
Er verstummte, suchte nach seinem Taschentuch, schnäuzte sich hinein.
Schwester Gisela kam hinter einem der Vorhänge
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