Der Mann, der wirklich liebte
Dankbar nahm er das Glas Wasser, das Schwester Gisela ihm reichte. Seine Hand zitterte so, dass ihm das Wasser ins Gesicht spritzte. Es gelang ihm nur mit Mühe, das Glas an die Lippen zu führen. Er schlürfte laut, während er hastig trank.
»Guten Morgen, Herr Röhrdanz«, sagte der Oberarzt und kam mit einem kalten Windhauch herein. »Da sind Sie mir ja doch zuvorgekommen. Ich wollte es Ihnen ja in aller Ruhe sagen, aber …
»Ich habe gedacht, sie ist …«
»Sechs Tage, nicht? Das hatten wir doch so vereinbart. Ich gebe Ihnen sechs Tage, habe ich gesagt. Wenn
Sie dann einen Arzt finden, der es besser kann als ich, fliege ich auf eigene Kosten mit Ihnen da hin. Sonst wird sie zum Sterben nach Leverkusen verlegt.«
Die Kälte und Hartherzigkeit des Oberarztes trafen Röhrdanz wie Peitschenhiebe.
»Warum lassen Sie sie zum Sterben nach Leverkusen bringen?«, schrie er auf wie ein gequältes Tier. »Warum konnten Sie sie nicht hier sterben lassen? Wenn sie doch sowieso stirbt?«
»Weil es sinnlos ist! Wir können ihr nicht helfen!«, verteidigte sich der Oberarzt aggressiv. Auf seiner Halbglatze standen Schweißperlen. »Niemand kann ihr helfen!«
Plötzlich brach seine Stimme, und er kämpfte selbst mit den Tränen.
»So ein Bett auf der Intensivstation kostet Unsummen! Haben Sie eine Ahnung, was ich mit den Kassen schon für Stress hatte?! Ich muss jede einzelne Spritze rechtfertigen … geschweige denn diesen Wahnsinnsaufwand an Apparaten.« Der Oberarzt schien sich selbst leidzutun. »Ich bin auch nur ein Rädchen im Getriebe …«
Röhrdanz schwieg und schmiegte seine Hände um das kühle Wasserglas.
Plötzlich hatte er Tränen der Erleichterung in den Augen und fächerte sich Luft zu.
»Tut mir leid«, sagte der Oberarzt und schluckte. »Mir ist gerade klar geworden, wie beängstigend das alles für Sie sein muss.« Er griff sich an den Kopf und drehte sich weg. Dann holte er tief Luft, riss sich zusammen
und drückte Röhrdanz’ Hand: »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
» A ngela! Hallo, Liebes! Ich bin’s! Bist du umgezogen? Hab dich aber gefunden.«
Wieder stand Röhrdanz mit Mundschutz, Häubchen und Zellophan-Pantoffeln über seinen Schuhen am Bett seiner Frau. Ihr Zustand war unverändert. Sie sah genauso aus wie in Düsseldorf, trotzdem spürte Röhrdanz bei ihrem Anblick eine unglaubliche Erleichterung.
»Leverkusen ist ja viel günstiger. Da brauche ich mit dem Auto nur noch zwanzig Minuten.«
Angela schwieg und starrte an die Decke.
»Ich habe mich total erschrocken, als du plötzlich weg warst. Das kannst du doch nicht machen, einfach abhauen.«
Aus Angelas Augenwinkel kullerte eine Träne. Er nahm versöhnlich ihre Hand.
»Na ja. Du kannst ja nichts dafür. Die haben dich einfach zurückgekarrt, was mir nur recht ist.«
Röhrdanz schaute sich in dem neuen Krankenzimmer um. Es war ein größerer Raum als in Düsseldorf, und es standen zwei Betten darin. Das andere Bett war leer. »Irgendwie bin ich froh, dass wir diesen unsensiblen Oberarzt los sind. Was meinst du? Oder fandest du den etwa nett?« Er tupfte Angela die Träne von der Wange. »Pass mal auf, Liebes, hier wird alles besser. Wir schaffen das.«
Röhrdanz ging zum Fenster, peilte die Lage. Unten befand sich ein kleiner trostloser Park. Dunkle Äste ragten
in den Himmel, nur ein einziges Blatt klammerte sich noch daran. Es war braun.
»Du hast sogar eine schöne Aussicht! Netter Park da draußen. Da komm ich mal mit den Kindern. Die können da spielen. - Hast du die Fahrt gut überstanden, Liebes?«
Er ging zurück zu ihrem Bett, tupfte ihr die Stirn.
Totenstille, nur das Beatmungsgerät war zu hören.
Röhrdanz hatte das Gefühl, sich schon gut auszukennen. Er fixierte die Apparate, die ähnlich aussahen wie die in Dortmund.
»Die hätten mir wenigstens Bescheid sagen können, die Blödmänner. Dann hätte ich dir auf der Fahrt Gesellschaft geleistet. Du musst dich ja schrecklich gefürchtet haben.«
Angela reagierte nicht.
Röhrdanz sah sich erneut um. »Die nette Gisela fehlt dir bestimmt, hoffentlich …«
Die Tür öffnete sich.
»Herr Röhrdanz?«
Ein langer, dünner Mensch im weißen Kittel schob sich herein. Er hatte schütteres blassblondes Haar, eine Nickelbrille und sehr schmale Lippen. Um seinen langen dürren Hals hing ein Stethoskop. Er machte einen arroganten Eindruck, und Röhrdanz hatte sofort das Gefühl, erneut auf einen Oberarzt zu treffen, der bestimmt nicht sein Freund werden
Weitere Kostenlose Bücher