Der Mann, der wirklich liebte
würde nicht vor ihr weinen. Ich breche gleich zusammen, dachte er. Was für eine grausame Wendung des Schicksals! Sie trägt unser drittes Kind unter dem Herzen! Wie ein Messerstich bohrte sich diese Erkenntnis erneut in sein Bewusstsein. Wieso Angela? Wieso ausgerechnet sie?
Er zwang sich, nicht die Beherrschung zu verlieren,
und fing sich wieder. Er streichelte ihre Hand. Die Zeit in der Kapelle hatte ihm eine innere Ruhe gegeben, die er an Angela weitergeben wollte. Wenigstens für kurze Zeit wollte er versuchen, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Trotz allem, was die Ärzte bisher gesagt hatten, war er sich sicher, dass sie ihn hörte.
Es klopfte, und die Nachtschwester huschte geschäftig herein.
»Da sind Sie wieder«, sagte sie freundlich. »Ich dachte schon, sie sind nach Hause gefahren.«
»Ich war nur … Ich war in der Kapelle.«
Die Schwester warf ihm einen Seitenblick zu und schwieg. Mit geübten Fingern hängte sie einen neuen Tropf an den Ständer und saugte Angelas Schleim ab. Ihr Mund war immer noch wie zu einem stummen Schrei aufgerissen. Die Schwester drückte Röhrdanz kurz die Hand. »Der Chefarzt kommt heute Morgen zurück.«
»Oh, das ist gut.« Röhrdanz entspannte sich sichtlich. »Das war der einzige Mensch, der ruhig und geduldig mit mir gesprochen hat.«
Die Nachtschwester war sehr freundlich, konnte aber ihre Besorgnis nicht verbergen.
Röhrdanz fragte sich, ob sie überhaupt ahnte, vor welche Gewissensentscheidung die Ärzte ihn gestellt hatten. Wusste sie, dass alle ihn bedrängt hatten, die Maschinen abstellen zu lassen? Wusste sie, dass es allein von seiner Entscheidung abhing, ob Angela samt ihrem Baby weiterleben durfte oder nicht? Konnte sie im Entferntesten ermessen, wie sehr er litt?
Nachdem die Nachtschwester wieder gegangen war, beugte sich Röhrdanz über Angela:
»Jetzt wird alles gut. Dieser Chefarzt macht einen ganz vernünftigen Eindruck auf mich.«
Angela starrte weiterhin an die Zimmerdecke.
Ob er die Vorhänge öffnen sollte? Draußen dämmerte schon fast der Morgen. Er zog ein wenig daran, als plötzlich eine dicke Fliege aus den dicken Stofffalten hervorsurrte und sich ausgerechnet auf Angelas Wange niederließ. Hier krabbelte sie suchend umher und näherte sich in Sekundenschnelle ihrem weit aufgerissenen Mund. Angela starrte mit schreckgeweiteten Augen hilflos an die Decke.
In Panik verscheuchte Röhrdanz die Fliege und jagte sie verzweifelt durch das ganze Zimmer. Immer wieder ließ sich das lästige Insekt irgendwo nieder, mal an der Wand, dann auf Angelas Bettdecke und schließlich auf ihrer Stirn. Offensichtlich schätzte sie Angelas warme Mundhöhle, denn schon wieder krabbelte sie rasend schnell hinein. Das war ja eine Katastrophe! Angela konnte sich noch nicht mal gegen eine Fliege wehren! Sie würde ersticken, wenn das Tier in ihre Luftröhre geriet! Röhrdanz packte die nackte Verzweiflung. Mit einem Handtuch schlug er nach der Fliege, riss eine leere Tasse vom Fensterbrett, die klirrend zerbrach, und hatte das grässliche Vieh endlich erwischt. Wie in Trance schlug er auf die Fliege ein, die erst noch verzweifelt auf dem Rücken lag und mit den Beinen strampelte, aber Röhrdanz ließ ihr keine Chance. In heiligem Zorn zermalmte er sie, bis nur noch ein klebriger Fleck von ihr übrig war. Er
zitterte am ganzen Leib. Hemmungslos begann er zu schluchzen und legte seinen Kopf an das kühle Fensterglas. Das war zu viel! Das schaffte er nicht! Er konnte doch nicht vierundzwanzig Stunden an Angelas Bett wachen und aufpassen, dass ihr keine Fliege was zuleide tat! Er hatte sich geschworen, nicht vor Angela zu weinen, aber jetzt konnte er einfach nicht mehr. Die Tränen tropften neben die tote Fliege, und der Rotz lief ihm aus der Nase. Schluchzend ließ er seiner Verzweiflung freien Lauf. Plötzlich merkte er, dass er nicht mehr allein mit Angela im Raum war. Wimmernd vor Schreck fuhr er herum und wischte sich mit dem Ärmel über Augen und Nase.
Eine Putzfrau mit Kopftuch, die aussah wie eine Zigeunerin, war geräuschlos hereingekommen und wischte nun geschäftig unter Angelas Bett herum. Sie tat so, als wäre es das Normalste der Welt, morgens um halb sechs in einem halbdunklen Zimmer zu putzen, und stieß ein paarmal ziemlich unsanft gegen das Bett. Dabei starrte sie Angela unverhohlen ins Gesicht.
»Lassen Sie das!« Röhrdanz war noch immer viel zu sehr in Fahrt, er wollte alles vernichten, was die Ruhe seiner Frau störte, und packte
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