Der Mann, der wirklich liebte
Kinder stoben erschrocken davon.
Denises entsetztes Gesicht würde er nie mehr vergessen. Sie drückte ihren kleinen Hund so fest an sich, dass er laut winselte.
»Ich weiß, das ist grausam für dich, Schatz, aber du musst da durch.«
Endlich war die erste Stufe geschafft. Angelas mächtiger Popo saß nun auf der zweitobersten Stufe. Ihre Beine zitterten vor Angst und Anstrengung.
»So, das haben Sie gut gemacht, Frau Röhrdanz. Jetzt nehmen Sie beide Beine und stellen sie auf die nächste Stufe. Ja, das müssen Sie selbst machen.«
Mühsam ging es so weiter, Zentimeter für Zentimeter. »Mit der rechten Hand umfassen Sie das Geländer, mit der linken stützen Sie sich neben Ihrem Gesäß ab …«
Angelas Gesicht war noch verzerrter als sonst, aus ihrem halb geöffneten Mund tropfte ein zäher Speichelfaden.
Aber nach einer Stunde, in der Marianne nicht nachgegeben hatte, saß sie endlich auf der untersten Treppenstufe.
Alle drei waren schweißgebadet. Röhrdanz hatte Herzstechen.
Die Kinder klebten längst wieder mit den Gesichtern an der Scheibe. Der kleine Hund wedelte wie verrückt mit dem Schwanz.
»Na sehen Sie, wie Sie das können!«, lobte Marianne, während Röhrdanz seiner Frau eine Schnabeltasse mit Tee an die Lippen hielt. »Jetzt trinken Sie mal einen Schluck, und dann nehmen wir den Rückweg in Angriff.«
Angela brach in Tränen aus und ließ sich wie ein Mehlsack nach hinten fallen.
Bessy kläffte.
Röhrdanz war mit seinen Nerven am Ende. Sein Trommelfell flatterte, sein Rücken stach. »Meinen Sie nicht, dass es für heute reicht? Sollen wir nicht morgen weitermachen?«
»Wissen Sie was, Herr Röhrdanz? Warum gehen Sie nicht mal eine Runde mit den Kindern und dem Hund in den Park? Wir beide schaffen das ganz alleine. Ihre Frau krabbelt da heute wieder hoch, das schwöre ich Ihnen!«
Trotz des entsetzten Angstgeheuls seiner Frau nahm Röhrdanz diesen Ratschlag dankend an. Er warf sich eine Jacke über, schnappte sich die Kinder und setzte jedes auf einen fahrbaren Untersatz: Dreirad, Fahrrad und Rollschuhe. Der kleine Hund umsprang sie freudig bellend. Nichts wie weg hier. Er hatte das Bedürfnis, einfach nur abzuhauen.
Als er zurückkam, hatte er sich sichtlich entspannt und fand zu Hause eine völlig erschöpfte, aber freudestrahlende Angela vor - und zwar auf der obersten Treppenstufe!
A ngela fristete ihr Dasein im ausgeleierten Jogginganzug. Das war das einzig passende Kleidungsstück für die mittlerweile Dreiunddreißigjährige. Erstens, weil sie so korpulent geworden war, zweitens, weil es das einzig praktische Kleidungsstück für ihren Alltag war. Während andere Ehepaare mit ihren Kindern zu fröhlichen Familienausflügen aufbrachen, abends mit Freunden ausgingen, an Wochenenden Radtouren unternahmen und in den Ferien in Urlaub flogen, waren ihre ehelichen Zweisamkeiten auf das pure Überleben ausgerichtet. Röhrdanz musste seine Frau mehrmals täglich zur Toilette bringen. Oft half der inzwischen einundzwanzigjährige Oliver seinem Vater bei dieser Prozedur. Für Schamgefühle war weder Zeit noch Gelegenheit.
Durch das tägliche Training im Neurologischen Therapiezentrum gelang es Angela irgendwann, selbst wieder einen Löffel zum Munde zu führen, wobei die nach wie vor pürierte Nahrung oft danebenging und gar nicht erst in ihrem Mund landete. Es gab Abende, da konnten sie alle herzlich über die Situation lachen, während Bessy dazu mit dem Schwanz wedelte. Das waren eindeutig die besten Abende.
Röhrdanz hatte beschlossen, seinen Kindern nie das Lachen zu verbieten, auch wenn es das Lachen über ihre eigene Mutter war. Angela stand körperlich immer noch
auf der Entwicklungsstufe eines Kleinkinds. Sie lallte, weinte, krabbelte die Treppe hinauf, machte sich zwischendurch in die Hose, verschluckte sich, spuckte und war genauso auf Röhrdanz angewiesen wie ihre gemeinsamen drei Kinder.
Das Schlimmste war der unsägliche Frust, den sie tagtäglich zu bewältigen hatte. Trotzdem erschien es Röhrdanz immer noch besser, sie lachten gemeinsam über ihre Missgeschicke, als dass sie über ihr Schicksal weinten. Die Kinder hatten nie etwas anderes erlebt als eine Mutter, die bei sämtlichen Verrichtungen ungeschickter war als sie selbst. Röhrdanz fiel es oft schwer, ihnen Grenzen zu setzen. Sie gerieten außer Rand und Band, aus Lachen wurde Weinen, weil sie so überdreht und überfordert waren. Aber wenigstens klopfte nie wieder ein Nachbar mit dem Besen an die Decke.
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