Der Mann, der zweimal starb Kommissar Morry
hätte geklappt“, sagte er still bei sich. „Morgen Nacht hole ich das Moos ab. Mehr hätten wir gar nicht erreichen können.“
Er ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Als er die Sidney Bar erreichte, zauderte er ein paar Herzschläge lang. Er wäre gern noch auf ein Stündchen eingekehrt, aber dann sagte er sich, daß die Kneipe jeden Moment schließen würde. Es hatte keinen Sinn mehr. Er mußte sich auf morgen vertrösten. Die Bude, in der Jack Potter seit Jahren hauste, lag gleich hinter dem Hoxton Canal. Das kleine Haus duckte sich windschief an die Uferböschung. Es besaß nur zwei Räume zu ebener Erde. Einen Oberstock gab es nicht. Das schiefe Dach neigte sich fast bis zur Erde.
Als Jack Potter die Tür öffnete, merkte er zu seinem Erstaunen, daß er beim Weggehen gar nicht abgesperrt hatte. Die Klinke gab sofort seinem. Druck nach. Weit schwang die knarrende Tür auf. Er trat in den Flur ein und machte Licht. Ohne Zögern ging er auf die Wohnkammer zu. Ein paar Sekunden später stand er in dem finsteren Raum. Er griff nach dem Lichtschalter. In der gleichen Sekunde traf ihn ein vernichtender Handkantenschlag an die Kehle. Wie ein Sandsack schlug Jack Potter auf dem Boden auf. Sein Hinterkopf prallte an die Wand. Ein wüster Schmerz tobte durch sein Hirn.
„Was ist denn?“ lallte er mit versagender Stimme. „Wer ist da?“
Er bekam keine Antwort auf seine törichte Frage. Er sollte überhaupt nie wieder eine menschliche Stimme hören. Es war ihm bestimmt, in der Finsternis wie ein Tier zu verenden. Nur noch mit halbem Bewußtsein spürte er, wie sich zehn würgende Finger um seinen Hals preßten. Sie hielten ihn fest wie eiserne Klammern. Es gab kein Erwachen mehr für Jack Potter. Er starb in der armseligen Bude, die er seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis bewohnt hatte. Und es sollte ein Tag und eine Nacht vergehen, bis man ihn fand.
15
Am Mittwoch hatte Nadja Orban ihren freien Tag. Es war das einzigemal in der Woche, daß sie richtig ausschlafen konnte. Sonst war sie an diesem Mittwoch immer bis zehn Uhr im Bett liegen geblieben. Dann hatte sie gemütlich die Zeit vertrödelt und am Nachmittag einige Einkäufe gemacht. Heute aber war alles anders. Sie stand schon um sieben Uhr auf. Es litt sie einfach nicht länger im Bett. Eine beklemmende Ruhelosigkeit ergriff von ihr Besitz. Der Name Joseph Hattan geisterte durch alle ihre Gedanken. Sie wurde die bedrückende Erinnerung an ihn einfach nicht los. Seit er ihr auf dem Weg zum Briefkasten begegnet war, fühlte sie sich unsicher und vereinsamt zwischen ihren vier Wänden. Sie erwartete jede Stunde seinen gespenstischen Besuch. Bereits in der Morgenfrühe dieses grauen Oktobertages machte sie sich auf die Zimmersuche. Sie klapperte die Stadtviertel Hoxton, Kingsland und Islington ab. Sie fragte in allen Pensionen und Wohnheimen nach. Aber das Passende wollte sich einfach nicht finden. Die einen störten sich daran, daß sie Bedienung in einer berüchtigten Kneipe war, die anderen wollten überhaupt nur an Herren vermieten.
So kam es, daß Nadja Orban in den Abendstunden die Zimmersuche enttäuscht einstellte. Ihre Füße schmerzten vom vielen Laufen, sie war hungrig und müde.
Da es ihr unsäglich davor graute, jetzt schon in ihr Zimmer zurückzukehren, blieb sie bis abends zehn Uhr in einer Imbißstube sitzen. Sie verzehrte geistesabwesend ihr Abendbrot und trank zerstreut und unfroh ein paar Flips. Erst als sich die letzten Gäste erhoben, zahlte sie ihre Zeche und stand auf. Wohin jetzt, dachte sie. Was will ich zu Hause? Dort erwartet mich ja nichts als die ewige Angst. Ich werde nicht einschlafen können. Es wird eine endlose Nacht werden. Sie stand auf der Straße und überlegte. Freundinnen hatte sie keine. Verwandte besaß sie nicht. So hätte sie höchstens wieder in ein Nachtlokal gehen können. Das aber wollte sie nicht. Sie stand ohnehin jeden Tag von früh bis spät in einer Bar. Eine halbe Stunde später traf Nadja Orban in ihrer Wohngegend ein. Sie war mechanisch hierher gegangen. Ein unbewußter Instinkt hatte sie geleitet. Da stand sie nun und starrte an dem brüchigen Haus empor. Ein jäher Widerwille erfaßte sie, als sie den Schlüssel aus der Handtasche nahm. Sie wäre am liebsten umgekehrt und weit weggelaufen. So sehr graute ihr vor der Rückkehr in ihr Zimmer.
Nach minutenlangem Zögern trat sie doch in den Hausflur ein. Sie hatte einfach keine andere Wahl. Sie ging nach oben, sperrte ihr
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