Der Mann, der's wert ist
Wenn man bedeutungslos geworden
ist, gibt es keinen idealeren Weg, ein bedeutungsvoller Mensch zu werden, als
Selbstmord zu begehen. Nach deinem Selbstmord sagen plötzlich alle, du wärst
eine interessante Persönlichkeit gewesen, verkannt von der Gesellschaft. Nach
deinem Selbstmord bist du plötzlich die liebste Freundin von all denen, die
vorher nichts mit dir zu tun haben wollten.
Das Leben ist wie ein guter
Roman: Happy-Ends gibt es nur in schlechten Romanen. Aber wenn am Ende alle
unglücklich sind, hoffnungslos für alle Zeit, dann ist es ein bedeutendes Werk.
Warum ist es so spießig, ein bißchen glücklich sein zu wollen?
Wenn nichts mehr zu ändern ist,
sollte man einfach aus dem Fenster springen, sich einfach die Pulsadern
aufschneiden. Alles sprach dafür, Selbstmord zu begehen. Die Margeriten auf der
Tapete waren wie Grabschmuck.
Nur ein Schritt. Nur ein
Schnitt. Oder eine Handvoll Schlaftabletten.
O Scheiße, Scheiße, Scheiße.
72. Kapitel
Vielleicht tat ich es nicht
wegen Rufus: Spring ich aus dem Fenster, hat er den Ärger mit meiner
zerschmetterten Leiche. Schneid ich mir die Pulsadern auf, muß er das Blut wegputzen
— Frau Hedderich würde nur danebenstehen und erzählen, wieviel Blut sie bei
ihren Krankheiten jeweils verloren hatte. Und Schlaftabletten hatte ich keine
einzige.
Montagmorgen rief meine Mutter
an, sie könne es nicht glauben, wie vor den Kopf gestoßen sei sie. Im
Hintergrund rief Annabell, wenn ich zurückkäme, dürfte ich mit Solveig spielen.
Solveig schrie: »Ich will telefonieren!« Mein Vater ließ ausrichten, er würde
später anrufen.
Als er dann vom Büro anrief,
erzählte er, sein Bruder Georg sei stinkwütend auf Benedikt, der seine behütete
Tochter verführt hätte, und wolle von einer Hochzeit der beiden absolut nichts
wissen. »Aber das ist deren Sache«, sagte mein Vater, als ginge mich das alles
nichts mehr an. Und er meine, eigentlich sei es besser, wenn ich vorläufig im
Hotel weiterarbeite, bei dem freundlichen Herrn Berger, Arbeit sei die beste
Therapie gegen allen Kummer. »Man muß nur irgendwas tun, dann geht das Leben
weiter.«
Mein Vater verstand nicht, daß
es entsetzlich ist, wenn das Leben weitergeht, obwohl die Welt Stillstehen
müßte.
Benedikts Autotelefon war
gestört, ohne Pause kam das Besetztzeichen. Wenn ich zu Hause anrief, ging nur
Nora ans Telefon. Ich legte auf. Wenn ich bei Benedikt im Büro anrief, war
Angela dran. Ich legte auf. Einmal nahm Herr Wöltje ab: »Herr Windrich ist
nicht da«, sagte er, »kann ich ihm was ausrichten?« Ich ließ ihm meine
Telefonnummer und meine Zimmernummer ausrichten. Herr Wöltje notierte es, als
hätte er keine Ahnung, wer ich bin. Benedikt rief nicht an.
Drei endlose Tage und endlosere
Nächte lag ich neben dem Telefon. Ich küßte mein Kopfkissen und fragte mich, ob
Benedikt allein in unserem Bett ist.
Rufus versorgte mich mit Essen.
Ich wollte nichts essen. Ob Walkwoman in meinem Zimmer staubsaugen solle? Nein.
Schon in der zweiten Nacht lief bei Angela zu Hause ein Anrufbeantworter.
»Hällouh«, sagte Angela mit ihrer verlogenen Nuttenstimme auf dem
Anrufbeantworter, »wir sind derzeit nicht erreichbar. Sie erreichen uns zu den
üblichen Geschäftszeiten« — klick. Aus.
Ich küßte mein Kopfkissen und
fragte mich, wie lange Benedikt das aushält.
73. Kapitel
Nach drei Tagen hielt ich es
nicht mehr aus neben dem Telefon, ich wollte lieber putzen. Rufus behandelte
mich wie eine Schwerkranke. Ob ich tatsächlich in der Lage sei, zu putzen?
»Warum nicht? Ich hab mir nicht das Bein gebrochen.«
Und Rufus fragte: »Kann man
putzen mit einem gebrochenen Herzen?«
Warum nicht. Alles, was ich
tat, war nur ein anderes Wort für warten.
Am Freitag kam Walkwoman zu
mir. Mit feuchten Augen sagte sie: »Ich hab dir meinen Ersatzwalkman
mitgebracht. Du brauchst die Musik. Du weißt, wo meine Kassetten in den Regalen
liegen. Nimm dir, was du brauchst.«
Walkwoman hatte recht: Mit
einem Walkman ist es einfacher zu überleben, das Herz verkrampft sich nicht,
wenn ein Telefon klingelt, weil man nicht hört, wenn ein Telefon klingelt. Und
wenn man die Musik ganz laut stellt, betäubt sie jeden Gedanken.
Ich arbeitete wie in einem
Nebel. Es gab genug zu tun. Zehn Frauen, die Strickmaschinen-Verkäuferinnen
werden wollten, logierten für eine Woche bei uns. In der Nähe des Hotels fand
ein Ausbildungsseminar für Wirkwaren-Heimgeräte-Propagandistinnen statt.
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