Der Mann, der's wert ist
Benedikts Zimmer. Der türkisblaue war von meinem Zimmer. Mit dem pinkroten
Seidenglanzlack hatte ich mal ein Herz für Benedikt gemalt. Aus Madame
Mercedes’ Restbeständen wählte ich Lack in Blutrot, Sonnenblumengelb,
Chagall-Lila und Giftgrün. Mit dem Schraubenzieher durchstach ich die alten
Lackhäute, tatsächlich war noch flüssiger Lack drunter. Ich kippte Dose für
Dose in die große Weißlackdose, wischte mit dem Pinsel die zähen Lackreste und
die Farbhäute raus. Langsam färbte sich der Weißlack grau, dunkelgrau, graurot,
graubraun... ich rührte und rührte, die alten Lacke waren zäh. Ich fand eine
Flasche Universalverdünner, kippte sie dazu, schon ging’s besser. Die
Oberfläche des Lacks krisselte sich, der Lack begann zu flocken. Tja, das
geschieht eben, wenn man Hochglanzlack und Seidenglanzlack mischt, und wer
weiß, welcher Art Madame Mercedes’ Uraltfarben waren? Tja, immer wenn man Dinge
mischt, die nicht zusammenpassen, kommt es zu Spannungen, dachte ich vor mich
hin. Ich fühlte mich wie eine kochende Hexe, sehr interessant, wie die
Lackhäute in der Soße zerkrümelten. Ich gab noch eine Dose Abbeizer dazu, sehr
interessant, wie jetzt der Lack geradezu rasant ausflockte. Sehr interessant,
wie heiß sich nun die Dose anfühlte — oder war mir Abbeizer über die Finger
gelaufen? Egal, ich nahm die Dose und goß eine dünne Spur des graubraunen
Krümellackes wie Schokoladenguß über das erste Dielenbrett vor dem Fenster. Und
über den Heizkörper. Beim zweiten Dielenbrett gelang es mir schon, eine beinah
gleichmäßige Wellenlinie aus der Lackdose zu gießen. Sehr interessant, die
vielen Blasen, die am Fußboden entstanden, als sich der Fußbodenlack anlöste,
der Abbeizer war von wirklich hochwertiger Qualität. Sehr interessant, die
zerbröselten Lackhäute dazwischen, sie sahen aus wie hauchzarte, zerbrochene
Borkenschokolade auf teuren Torten. Sehr interessant, die ganz zufällig
entstehenden Farbschlieren von Gelb, Blau, Pink, Schwarz. Hochinteressant, das
Muster meiner Turnschuhsohlen auf dem Boden, Schritt für Schritt mehr kleine
braune Ringe und Kreise, wie die Saugnäpfe von Tintenfischen.
Allerdings stank es
gesundheitsgefährdend. Ich öffnete das Fenster, holte tief Luft, und hörte mit
einem Schlag einen Schrei ringsum: »OOOOHHHJAAAAA!!! OOOOOHJAHHHü!
OOOOOHHJAAAAA!!!!«
Zuerst glaubte ich an eine Halluzination,
dann verstand ich, was es bedeutete: ein Tor für Deutschland. Ein Wunder für
Deutschland. Es war erst zwanzig nach sechs, da war das Spiel nicht
entschieden, da konnte noch viel passieren. Ich hatte Wichtigeres zu überlegen.
Damals, als ich dieses Zimmer
zum erstenmal betrat, da waren die Scheiben so schmutzig gewesen, daß das Licht
trüb wirkte — wie könnte man diesen Effekt wieder erzielen? Ich überlegte mit
dem kalten Herzen eines Profis. Ich sah die Lacke im Karton durch und fand den
Klarlack, mit dem ich den Fußboden versiegelt hatte. Der braungraue Lack in
meinem Pinsel vermischte sich mit dem Klarlack zu einem geradezu idealen,
durchsichtigen Gelbgrau. Ruck zuck strich ich die Fensterscheiben von oben bis
unten, innen und außen. Ich schloß die Fenster, um den Effekt zu prüfen:
perfekt! Als wären die Scheiben noch nie geputzt worden. Muß eine furchtbare
Arbeit sein, all den Lack wieder von den Scheiben zu kratzen, dachte ich ruhig.
Nun, im trüben Licht, erinnerte ich mich wieder ganz genau, wie das Zimmer
damals ausgesehen hatte...
Ich kroch noch einmal die
Treppenleiter zum Speicher hoch. In einer Ecke stand jener Karton, in den ich
damals Madame Mercedes Kunstdrucke gepackt hatte. Mit einem Griff hatte ich,
was ich suchte, da war es, eingewickelt in den Katastrophenbericht über den
Bus, der brennend in die Schlucht stürzte...
Beim Runtersteigen ruinierte
ich meinen rosa Pulli, die braunen Lackpunkte von meinen Schuhsohlen hatten
sich auf die Treppe übertragen, waren nun auch auf meinem Pulli, egal, sie
waren überall. Mit einem Schlag haute ich einen Nagel in die Wand, hängte das
Bild auf. Ich ging aus dem Zimmer, schloß die Tür, öffnete sie wieder mit einem
Ruck: perfekt! Wie damals: Ich hätte vor Entsetzen wieder fast geschrien, da
hing sie wieder, die gräßlich schreiende Frau von Edvard Munch...
Mehr konnte ich nicht tun. Ich
mußte gehen, auch wenn es mir schwerfiel, jede Rille meiner Turnschuhe war mit
Lack gefüllt, ich klebte bei jedem Schritt fest. Aber dann sah ich den
Staubsauger im Flur. Ich hatte den
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