Der Mann, der's wert ist
Heiligtum« hörten wir auf zu singen, wir hatten
andere, freudvollere Gefilde betreten — um es dezent zu umschreiben.
Die Ode an die Freude ist ein
langes Stück. Mindestens fünfundzwanzig Minuten lang.
...»Und der Cherub steht vor
Gott«, seufzte Benedikt in mein Ohr. Großes Getöse. Alle sangen durcheinander,
und Pauken und Trompeten überschlugen sich.
...»Wer ein holdes Weib
errungen, mische seinen Jubel ein«, schrie der Chor, und Benedikt flüsterte:
»Diese Zeile gefällt mir am besten« und schlief lächelnd ein.
Es gibt Höhepunkte der Musik.
Höhepunkte des Lebens.
Höhepunkte des Liebens.
Mit Benedikt kann man alles
gleichzeitig erleben.
Als die Ode an die Freude
verstummt war, war auch vom Fernseher nebenan nichts mehr zu hören. Benedikts
Mutter hatte ihre Stellung aufgegeben.
6. Kapitel
Sonntags beim Mittagessen, es
gab Tomatensuppe und paniertes Schnitzel mit Kartoffeln und gebackene,
reisgefüllte Tomaten — paniertes Schnitzel hatte Benedikt schon als Kind so
gerne sonntags gegessen — , verkündete Nora, sie hätte mit Medi telefoniert,
und Medi käme zum Nachmittagstee.
Ziemlich aufgeregt zog ich mich
um, der eleganten Medi mußte ich mich entsprechend präsentieren, und weil
nichts so elegant ist wie absolute Schlichtheit, entschied ich mich für meine
weißen Hosen, meine weiße Bluse mit sechzig Prozent Leinenanteil, meine
Perlohrringe und weiße Espandrillos. Außerdem verlangte ich von Benedikt eine
endgültige Entscheidung, ob ich seine Schwester mit Medi oder Mercedes anreden
sollte, aber Benedikt sagte, das sei keine Aufregung wert und würde sich von
allein ergeben.
Sie kam um vier. Sie war groß,
so groß wie Benedikt, und so dünn, daß sie eigentlich dürr war. Sie hatte eine
Ponyfrisur wie ihre Mutter, aber ihr Pony war rundgefönt, eine Frisur wie
Mireille Matthieu. Und sie hatte metallicblauen Lidschatten bis hinauf zu den
runden Augenbrauen.
Als ich sie im Flur begrüßte,
zog sie die Augenbrauen hoch, die metallicblauen Bögen vergrößerten sich. Ich
erschauderte und stotterte: »Hallo Merdie...«
Sie kniff die Augen zu, die
Metallbögen wurden zu Metallic-Ovalen.
Was hatte ich gesagt? — Merdie!!
— Und >merde< heißt auf französisch >Scheiße Natürlich hatte sie es gemerkt.
Schnell sagte ich: »Du trägst ein wunderbares Seidentuch, Mercedes.«
Sie rückte das riesige
Seidentuch, das sie über der Schulter drapiert hatte, zurecht. Das Tuch war mit
einer klotzigen modernen Silberbrosche über dem Busen festgesteckt, und direkt
neben der Brosche war auf dem Tuch mit goldfarbener Schrift gedruckt: Ȉ
Salvador Dali«. Durch den Faltenwurf war das Muster aus groben Pinselstrichen
nicht zu erkennen.
»Ein Tuch von Dali«, sagte ich,
»wie geschmackvoll.«
»Das ist ein Beuys, falls dir
der Name was sagt«, erklärte Mercedes mit hochgezogenen Augen, »es ist eine
Hommage von Beuys an Dali. Nur Beuys beherrscht dieses Rostbraun. Hat Beuys für
Karl Lagerfeld entworfen. Und mein ständiger Verehrer, mein Herzallerliebster,
hat es mir geschenkt.«
»Wunderschön«, log ich, was
hätte ich sonst sagen sollen? In Illustrierten hatte ich schon Anzeigen für
solche Künstler-Seidentücher gesehen — immer steht dabei, daß die Auflage
limitiert und die Nachfrage enorm sei, trotzdem wird dafür monatelang Werbung
gemacht. Ich hatte mich immer gefragt, wer so was kauft, nun wußte ich es.
»Jetzt brauch ich erst mal eine
gute Tasse Tee«, sagte Mercedes zu ihrer Mutter. Sie sagte es, als hätte sie
die Wahl zwischen guten und schlechten Tassen Tee.
»Soll ich das gute Service
holen?« fragte ich. Nora nickte gnädig.
»Wo ist mein Bruderherz?«
»Im Spielzimmer.«
Mercedes ging hinein, ohne
anzuklopfen. »Sei gegrüßt, Bruderherz, ich hab Tränen gelacht, als Mutti
erzählte, daß du jetzt wieder im Spielzimmer gelandet bist.«
»Hier läßt es sich leben«,
sagte Benedikt.
»Hab schon gehört — leben und
lieben«, kicherte Mercedes. Benedikt ging nicht darauf ein. Er erkundigte sich mit
den üblichen Fragen nach ihrem Urlaub: »Wie war das Wetter? Das Essen? Wie war
Frankreich?«
»Wie üblich alles vom
Feinsten«, sagte Mercedes, »mein Herzallerliebster hat mir wieder die Welt zu
Füßen gelegt.« Sie zündete sich eine Cartier-Zigarette an.
Ich deckte den Tisch im Garten,
mit Treppenstufenmuster-Service und der Braun-orange-Plastikdecke, Mercedes
sollte merken, wie gut ich mich den Gepflogenheiten ihres
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