Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
die Greentree Avenue als erstrebenswertes Ende des Weges ansahen, aber diese und ihre Familien litten unter einer gewissen gesellschaftlichen Ausgrenzung. In der Greentree Avenue war Zufriedenheit ein Gegenstand der Verachtung.
Niemand hier ist böse, dachte Betsy abwehrend. Obwohl viel getrunken wurde, benahmen sich die jungen Paare auf den Cocktailpartys in aller Regel doch ganz gut. Sicher, manchmal gab es ein paar Küsse in der Küche und den einen oder anderen schrillen Streit, aber meistens saßen die Männer und ihre Frauen einfach zusammen und unterhielten sich über die modernen Häuser, die sie gern bauen, oder die alten Scheunen, die sie gern in Eigenheime umwandeln würden. Beständig wurde der Preis erörtert, den die kleinen Häuser in der Greentree Avenue jeweils brachten, wie auch die Frage, wie hoch der Kredit sein könnte, den die hiesigen Banken für größere Häuser wohl gewährten. Im weiteren Verlauf des Abends gaben die Männer gern ihre Träume preis, in denen sie in ein völlig anderes Leben flohen – auf eine Milchfarm in Vermont oder zum Management eines Hotels in Florida –, meistens aber gaben die Cocktailpartys einfach jedem die Gelegenheit zu beweisen, dass er die Greentree Avenue als nicht mehr denn ein Sprungbrett für das gleiche Leben in einem größeren Maßstab betrachtete. Daran ist ja nichts Schlimmes, versuchte Betsy sich einzureden. Hier ist es ja auch gar nicht so schlecht, nur so …
Öde. Das war das Wort, das sie meistens für die Greentree Avenue gebrauchte, doch an dem Abend verwarf sie es. Wenn es nur öde wäre, würde es mich nicht so sehr stören. Das Dumme ist, es ist nicht öde genug – es ist angespannt, und es ist hektisch. Oder, ehrlich gesagt, Tom und ich sind angespannt und hektisch, und ich wünsche zu Gott, ich wüsste, warum.
Betsy setzte sich im Bett auf und schaute in dem matten Licht vom Fenster auf Tom. Er schlief und wirkte, jedenfalls momentan, vollkommen heiter. Sie tastete auf dem Nachttisch umher, bekam eine Zigarette zu fassen und zündete sie an. Ein Gefühl von düsterem Pessimismus und Selbstvorwürfen überkam sie. Bei Betsy waren solche Stimmungen äußerst selten, aber wenn sie ihnen zum Opfer fiel, wurde jedes demütigende Erlebnis, das sie seit ihrer frühen Kindheit gehabt hatte, wieder lebendig, und alle tröstlichen Gedanken brachen unter ihr weg, als hätte sie auf einer Falltür gestanden. Zu solchen Zeiten kam ihr das große Backsteinhaus in der Beacon Street, in dem sie aufgewachsen war, nicht als heiteres Haus in Erinnerung, in dessen Wohnzimmerkamin an Winterabenden Kiefernscheite prasselten, sondern als gruftartiger Bau mit einer langen Treppe, deren jede Trittstufe Risse hatte und die sie jeden Abend allein hatte hinaufgehen müssen, während ihre ältere Schwester Alice sich weiter in der Wärme unten rekeln konnte. Betsy hatte eine ziemlich einsame Kindheit verbracht – ihre Schwester war acht Jahre älter als sie, und ihre Eltern waren bei ihrer Geburt schon recht alt gewesen und hatten nicht mehr die Energie, wenn schon nicht den Willen gehabt, sich länger mit dem kleinen Kind zu beschäftigen. Fast von Beginn an war Betsy ein ziemlich erwachsenes Kind gewesen. Sie hatte selten geweint, und obwohl sie sich vor den Schatten an der Wand der Treppe und der Finsternis im oberen Flur fürchtete, hatte sie ihre Angst doch niemandem anvertraut. Vielmehr hatte sie, wenn sie hinauf ins Bett ging, entschlossen vor sich hin gesummt, die Lippen zusammengepresst und die Fäuste fest geballt, wenn sie an den Schatten entlang in den dunklen Flur schritt, wo alles lauern konnte. Da ihre Eltern Nachtlichter für Kinder nicht guthießen, hatte sie im Dunkeln geschlafen, die Ohren nach den tröstlichen Geräuschen vom Stock darunter und dem gelegentlichen Lachen ihrer Schwester gespitzt. Als sie nun neben Tom lag, erwartete Betsy fast, dass sie dieses Lachen wieder hörte.
» Eins kann ich dir sagen …«, hatte ihre Schwester Alice gesagt. Das war viel später gewesen, als Betsy ihrer Familie sagte, sie wolle Tom heiraten. » Eins kann ich dir sagen «, hatte sie gesagt. »Wenn du jetzt heiratest, wirst du es bereuen. Du bist zu jung. Eines Tages wirst du dich daran erinnern, dass ich dir das gesagt habe, und dir wünschen, du hättest meinen Rat befolgt. Warte bis nach dem Krieg. Ein Mädchen in deinem Alter, das einen Mann heiratet, der gleich zum Militär geht, ist verrückt.«
»Aber ich kenne ihn doch schon seit drei Jahren«,
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