Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
er ihn noch nie gesehen. Edward war ein hochgewachsener Mann von ungefähr fünfundsechzig Jahren, schmal, mit hängenden Schultern. Tiefe Gräben liefen von den Nasenrändern bis zu den Mundwinkeln, und seine Stirn war gefurcht. Was er wohl für ein Leben geführt hat?, fragte sich Tom. Was hatte er all die Jahre getan, nachdem abends das Geschirr gespült war? Er erinnerte sich, dass seine Großmutter ihm erzählt hatte, er habe Kanarienvögel auf seinem Zimmer. Irgendwie erschien ihm das nicht möglich.
Nun hielt Edward die Tür mit einer Hand auf, das Gesicht ernst und abweisend. Die Kinder, froh, aus der Enge des Wagens zu kommen, sausten ihren Eltern voraus in das große Haus, hielten dann aber, von der düsteren und irgendwie unheimlichen Beleuchtung in der Diele überrascht, schlitternd an, wobei sie in einen Läufer Falten schlugen. Tom und Betsy kamen mit Kartons und Koffern herein. Edward machte keine Anstalten, ihnen zu helfen. Als sie drin waren, ließ er die Haustür leise zufallen. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen, Mr Rath«, sagte er.
»Sobald wir die Sachen alle weggeräumt haben«, sagte Tom. Edward stand da und sah zu, wie er und Betsy die Koffer nach oben trugen. Die Kinder, seltsam gedrückt, folgten ihren Eltern.
»In welches Zimmer sollen wir unser Zeugs tun?«, fragte Betsy schwer atmend.
»Ich würde sagen, in Großmutters«, sagte Tom. »Die Kinder sollen auf demselben Stock wie wir sein, den zweiten werden wir also wohl nicht nutzen. Wenn die Mädchen zusammenbleiben wollen, können wir sie in das große Gästezimmer packen, und Pete kann mein ehemaliges Zimmer haben.«
Die Tür zum Zimmer seiner Großmutter war nicht verschlossen. Ohne seine Koffer abzusetzen, stieß er mit den Zehen dagegen. Sie schwang auf und enthüllte das große Himmelbett, das seltsam breit und leer wirkte. Von den Wänden starrten alte Gemälde vom »Senator« und vom »Major« als Kinder aus kunstvollen Goldrahmen herab. Barbara und Janey, deren Lebensgeister abrupt wieder erwacht waren, sprangen auf das große Bett und hüpften auf und nieder.
»Runter da!«, sagte Tom scharf.
Die Kinder sahen ihn verblüfft an. »Warum denn?«, fragte Janey.
»Ihr sollt das Bett nicht zerwühlen«, erwiderte Betsy freundlich. Sie häufte die Schachteln, die sie getragen hatte, auf einen Stuhl.
»Ich glaube, ich gehe gleich mal runter und rede mit dem alten Edward«, sagte Tom.
»Was willst du ihm sagen?«
»Ich weiß nicht – wahrscheinlich, dass wir vorerst nicht wissen, was wir für ihn tun können.«
Edward erwartete ihn unten an der Treppe. »Gehen wir ins Wohnzimmer und setzen uns hin«, sagte Tom.
Der alte Mann folgte ihm schweigend. Tom setzte sich auf einen Sessel, Edward ließ sich leger auf den alten Schaukelstuhl sinken, in dem die alte Mrs Rath immer gesessen hatte. Irgendwie wirkte er darin schockierend fehl am Platz, als er ein Bein übers Knie legte und sich zurücklehnte.
»Sie wollten mich sprechen?«, fragte Tom. Er fand es besser, Edward beginnen zu lassen.
»Wann wird das Testament eröffnet?«
»Das Testament? Ich weiß nicht, ob das geschehen wird. Mrs Raths Anwalt hat es. Warum fragen Sie?«
»Wissen Sie, was sie mir hinterlassen hat?«
»Mrs Rath hat kurz vor ihrem Tod mit mir darüber gesprochen«, sagte Tom. »Sie bat mich, für Sie zu tun, was ich könne, und das habe ich auch vor. Sie waren im Testament nicht gesondert erwähnt.«
»Ich war nicht erwähnt !«, sagte Edward. Er beugte sich auf dem Stuhl vor.
»Ich hatte vor, mit Ihnen darüber zu sprechen«, sagte Tom. »Wie Sie vielleicht wissen, hat Mrs Rath nicht sehr viel hinterlassen. Es wird eine Weile dauern, bis ich genau weiß, was ich für Sie tun kann, aber ich versichere Ihnen, ich werde alles tun, was ich kann.«
»Das glaube ich nicht!«, erwiderte Edward. »Sie hat gesagt, sie werde mich in ihrem Testament bedenken!«
»Vielleicht war Mrs Rath ein wenig verwirrt …«, begann Tom.
»Das glaube ich nicht! Ich gehe vor Gericht! Ich habe Beweise!«
»Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird«, sagte Tom. »Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ich habe nicht viel zu geben, aber solange wir dieses Haus haben, haben Sie immerhin eine Bleibe, und zu gegebener Zeit hoffe ich, etwas für Sie zu arrangieren.«
»Ich brauche Ihre Barmherzigkeit nicht!«, sagte der alte Mann. »Ich habe Geld gespart – wahrscheinlich habe ich einiges mehr als Sie! Ich will nur Gerechtigkeit!«
»Erst wenn der Nachlass geregelt ist,
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