Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
hatten, waren sie Kinder, und ihr Glück war ein blasses, zerbrechliches Kinderglück gewesen, voller kleiner Ängste, ja rechtzeitig zu Hause zu sein und das Richtige zu tun. Und nach dem Krieg hatte es eigentlich gar keine Zeit für Glück gegeben – es hatte Haushaltspläne und Rechnungen von Geburtshelferinnen und hektische Zukunftsplanungen gegeben. Das war das Dumme mit ihm und Betsy gewesen: Bei seinen ganzen Grübeleien über die Vergangenheit und den Sorgen über die Zukunft hatte es gar keine Gegenwart gegeben.
Mit Maria dagegen war es anders gewesen. Sie hatten sich beide damit abgefunden, dass sie keine Zukunft hatten, und die Vergangenheit war etwas gewesen, das vergessen werden musste. Bei Maria hatte es nur den unmittelbaren Augenblick gegeben, ohne jeden Schatten, unerwartet, etwas, wofür man dankbar sein musste. Vielleicht, dachte Tom, hat das etwas mit Erwartungen zu tun – seine und Betsys waren so groß gewesen! Alles werde bei ihnen perfekt, hatten sie von Anfang an erwartet. Sie würden reich sein, sie würden gesund sein, und sie würden nichts Unrechtes tun. Jede Abweichung von der Perfektion war ihnen als faule Stelle erschienen, die das Ganze verdarb. Er und Maria dagegen hatten nichts erwartet. Sie hatten mit Hoffnungslosigkeit begonnen und voller Verwunderung gemerkt, dass sie ein paar Wochen lang glücklich sein konnten.
Wie er so in seinem Hotelzimmer lag, erinnerte Tom sich plötzlich an den Tag, an dem er mit Maria zum Picknicken fuhr, und er lächelte – sogar bei dieser fernen Erinnerung musste er lächeln. Es war von Beginn an ein absurder Tag gewesen. Nachdem er sich einen Jeep organisiert hatte, waren er und Maria um neun Uhr aus Rom mit einem großen Korb voller Lebensmittel und einer Flasche Wein aufgebrochen. Der Himmel war grau gewesen, fedrige weiße Wolkenfetzen waren über dunklere, schwärzere Wolken hingezogen, die sich am Horizont türmten, und es war kalt gewesen – die Schlammpfützen neben der Straße hatten eine Eisdecke gehabt. Um halb zehn, sie hatten gerade die Stadt hinter sich gelassen, hatte es angefangen zu regnen. Es war ein absurder Tag für ein Picknick gewesen, aber es war ihnen gar nicht in den Sinn gekommen umzukehren. Er hatte angehalten, und sie hatte ihm geholfen, die Seitenverkleidung des Jeeps zu befestigen, und dann war es drinnen kuschelig warm gewesen, und die Welt hatte durch die Tropfen auf der Windschutzscheibe unheimlich gewirkt. Sie waren nach Süden gefahren, ziellos – es war ein herrliches Gefühl von Freiheit gewesen, an einer Kreuzung völlig willkürlich nach rechts oder links zu biegen, ohne dass es sie kümmerte, wohin sie fuhren. Maria hatte den Kragen ihres alten Soldatenmantels hochgeschlagen, aber keinen Hut getragen, und ihre dunkel glänzenden Haare waren nass geworden, als sie die Seitenverkleidung angebracht hatten, und den ganzen Tag über feucht geblieben. Sie hatte zufrieden gewirkt da auf dem harten, unbequemen Sitz des Jeeps. Sie hatte nicht gelächelt – ihr Gesicht war so oft ernst gewesen –, aber sie hatte fast unhörbar ein Lied vor sich hin gesummt, und er hatte sie immer wieder angesehen und eine enorme Befriedigung daraus gezogen, wie sie so heiter neben ihm saß.
»Was singst du da?«, hatte er gefragt. »Sing lauter, damit ich es auch höre.«
Sie hatte bescheiden den Kopf geschüttelt. »Ich kann nicht singen«, hatte sie gesagt. »Ich kenne keine Musik.«
»Ich schon«, hatte er gesagt. »Du sitzt zufällig neben dem größten Bariton und Mandolinenvirtuosen der gesamten Vereinigten Staaten. Willst du mich hören?«
»Ja.« Sie hatte gelacht.
»Die Mandoline musst du dir im Hintergrund vorstellen«, hatte er erwidert. »Pling, pling, pling – sorgt das für die richtige Stimmung?«
»Ja.«
»Also gut!« Dann hatte er aus vollem Hals »Old Man River« und den »Saint Louis Blues« gesungen, und beide hatten seltsam traurig geklungen. Ihr Lachen war eine Art Begleitung der Lieder gewesen, und er hatte dann noch »Way down upon the Swanee River, far, far away – there’s where my heart is turning ever, there’s where the old folks stay …« gesungen. Er war sich kurz der Ironie dessen bewusst geworden, dass er ja gerade gar nicht weiter an die alten Leute zu Hause dachte, aber diesen Gedanken hatte er beiseitegewischt. An dem Tag hatte er alle Lieder gesungen, deren Text er kannte, während sie ziellos durch den Regen fuhren. Sie hatte nicht versucht mitzusingen – sie hatte nur dagesessen
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