Der Mann im Park: Roman (German Edition)
sie.
»Ich denke schon«, antwortete Stierna.
»Sie haben mir versprochen, dass Sie ihn schnappen. Erinnern Sie sich?«
»Ja, ich erinnere mich.«
Maria Bengtsson schaute ihn lange an.
»Was glauben Sie, wer war das?«
»Wir wissen es noch nicht.«
Maria Bengtsson nickte schweigend. Plötzlich stand sie auf und ging ins Nebenzimmer. Stierna folgte ihr.
Dort standen immer noch zwei Betten. Einige von Ingrids Spielsachen waren auch noch dort. Der Puppenschrank. Der niedrige Tisch mit dem Zeichenblock und den Farbstiften.
Maria Bengtsson stellte sich ans Fenster und sah auf die Straße.
»Es ist so sonderbar, wenn jemand, den man liebt, einfach so verschwindet«, sagte sie. »Ausradiert wird. Und das Merkwürdigste ist, dass das Leben da draußen vor dem Fenster weitergeht. Die Welt steht nicht still. Die Autos hupen und fahren wie vorher die Straße entlang. Die Milchkarren knarren, die Straßenbahnen quietschen.«
Stierna blieb stumm.
»Manchmal möchte ich unbedingt über Ingrid reden. Erzählen, wer sie war, wie sie war. Denn bald wird sie für die meisten nur noch ein Schatten sein, jemand, den diejenigen, die sie vorher so gut gekannt hatten, nur noch schwach im Gedächtnis haben. Ich weiß nicht einmal, wie deutlich ich mich an sie erinnern werde, wenn ich einmal alt und müde bin und an sie zurückdenke. Vielleicht möchte ich deshalb so gern über Ingrid reden. Um die Erinnerung zu bewahren. Ich weiß nicht … Vielleicht rede ich auch nur dummes Zeug.«
»Wenn Sie möchten, ich höre gern zu«, sagte Stierna.
Er nahm die Eins vom Odenplan. Stieg an der Vasagatan in die Fünf um. Und dann stieg er bereits am Stureplanen aus, fand, er bräuchte ein wenig Bewegung. Schnell ging er die Birger Jarlsgatan entlang.
Hier lag die Liebesbörse, der Treffpunkt der Prostituierten in Stockholm. Beim Vergnügungsviertel rund um den Stureplanen. Dicht beim Strandvägen, in dem die Reichen in ihren protzigen Häusern lebten. Das Jagdrevier der Polizeiabteilung für die Landstreicher. Sie hatten mit tragischen Nachtschwärmern zu tun, mit Zuhältern und Männern, die sich die Liebe für Geld erkauften.
Nedre Östermalm, dachte Stierna. Hier treffen die Schattenseiten der Gesellschaft auf die lichten Seiten, die Sonnenseite. Auch wenn der Glanz nicht immer hochpoliert ist. Bei Weitem nicht.
Stierna gelangte auf den Strandvägen. Das Wasser der Nybroer Bucht glitzerte in der Dunkelheit im Licht der Stadt.
Dieser Platz war etwas Besonderes für ihn. Hier am Wasser hatte er an dem Frühlingstag gestanden, als der Versailler Vertrag unterzeichnet wurde, das war jetzt fast neun Jahre her. Er erinnerte sich an all die Menschen am Strandvägen damals. Er erinnerte sich an den Küstennebel unten am Wasser. Die Leute, die zusammengekommen waren, weil der Friedensvertrag unterschrieben worden war, nachdem der Krieg praktisch schon seit einer ganzen Weile zu Ende gewesen war. Sie hatten sich dort versammelt, um den königlichen Festzug zu sehen, mitzuerleben, wie Prinz Axel von Dänemark mit seiner Braut Prinzessin Margaretha aus ihrem Elternhaus auf Djurgården auszogen.
Stierna war im Dienst hier gewesen und sollte dafür sorgen, dass die riesige Menschenmenge sich gesittet verhielt. Das war, bevor er zur Abteilung für Gewaltverbrechen kam.
Ein paar Monate später verschwand die Holzkarte, verschwand die Brotkarte. Die Zeit der Rationierung war vorüber, die Zwanzigerjahre standen vor der Tür. Der Beginn einer neuen Zeit für Europa, ohne Krieg. Die romantischen Zwanzigerjahre.
Die Bucht von Nybro. Von hier aus wollte er am nächsten Tag auf die Insel fahren, mit Karolina. Die Stadt hinter sich lassen, und wenn es nur für ein paar Tage war.
Stierna ging am Wasser entlang. Er kam am Strandvägen 5A vorbei, betrachtete die protzige Haustür.
Hier vor dem Haus hatte Nils Sandquists schwarzer Chevrolet Imperial Landau gestanden. Mit dem der Mörder Ingrid Bengtsson zur Djurgårdswerft gefahren hatte.
Warum war der Mörder zurückgekommen?, fragte Stierna sich. Warum kam er zurück und stahl das Auto, nachdem der erste Versuch missglückt gewesen war?
Er blickte über das Wasser auf die Djurgårdsbrücke. Die Werft lag dahinter, sie war nicht zu erkennen, aber dennoch konnte er sie vor sich sehen, wenn er die Augen schloss. Ganz deutlich.
56
Stierna stand im Vasapark am Kiosk. Er lag an der Seite des Parks, zur Odengatan. Stierna war jetzt schon fast eine Stunde hier. Er hatte auf einer Parkbank bei der
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