Der Mann im Park: Roman (German Edition)
Schweden.
Stierna dachte nicht mit Nostalgie an diese Bereitschaftszeit zurück, ganz im Gegenteil. Die Nazi-Gesinnung war damals beunruhigend weitverbreitet gewesen. Es gab zwar auch sowjettreue Kommunisten in Stockholms Straßen, die, ohne zu zögern, eine Invasion aus dem Osten unterstützt hätten, doch sie waren nicht besonders zahlreich gewesen. Und dann war da der Hunger gewesen. Und die Angst vor dem Krieg. Aber Stierna spielte »Min soldat«, natürlich tat er das.
Der Speisesaal des Gasthauses war gut besucht, zum ersten Mal, seit er ins »Rosengården« gekommen war. An diesem Abend fiel ihm das Spielen auch leichter.
Stierna spielte, bis der Saal um elf Uhr geschlossen wurde. Da saßen immer noch an die dreißig Gäste im Raum. Nur widerstrebend gingen sie, der Abend hatte ihnen gefallen.
Als er den Klavierdeckel zuklappte, kam der Oberkellner zu ihm. Er hatte zwei Gläser Cognac dabei, stellte eines vor Stierna, behielt das andere in der Hand.
»Herr Stierna«, sagte der Oberkellner, »Sie sind ja ein Mann mit ungeahnten Talenten.«
Der Angesprochene ergriff sein Glas.
»Na, ich weiß nicht so recht. Ich fühle mich immer noch ziemlich eingerostet.«
»Das hört man aber nicht. Zumindest hören es die Gäste nicht.«
Stierna war klar, dass der Oberkellner übertrieben freundlich zu ihm war. Schließlich lockte seine Musik Gäste an, ob sie nun gut oder schlechter gespielt wurde. Und das Haus verdiente an Stierna, nicht nur an seinem Zimmer und dem Essen, das er hier einnahm.
»Ich möchte mich Ihnen gern vorstellen«, sagte der Oberkellner. »Ich heiße Malmborg, Jarl Malmborg.«
»John Stierna.«
»John. So hieß mein Vater.«
»Ach ja?«
»Ja. Haben Sie früher viel gespielt?«
»In meiner Kindheit habe ich fast jeden Tag gespielt. Aber seitdem habe ich nie wieder am Klavier gesessen. Bis ich hier nach Visby gekommen bin.«
»Ich verstehe. Ich habe gehört, dass Sie bei der Polizei arbeiten.«
Das war aber ein plötzlicher Themenwechsel, dachte Stierna.
»Gearbeitet habe«, sagte er. »Ich war Polizeibeamter. Aber inzwischen habe ich aufgehört.«
»Sie waren Kommissar …«
»Ja, ich war Kommissar.«
Der Oberkellner schwenkte sein Glas. Er ist neugierig, dachte Stierna.
»Frans hat es mir erzählt. Ja, er ist manchmal an der Rezeption. Blond, ziemlich jung …«
»Ich weiß, wer das ist«, sagte Stierna.
»Er … Also, Frans, der hat mir erzählt, dass Sie sich häufiger mit einem Journalisten treffen. Einem, der im Stadthotel wohnt.«
»Ja, das stimmt.«
»Und worüber sprechen Sie mit ihm?«
Stierna trank von seinem Cognac.
»Er schreibt über einen Mordfall, bei dem ich die Ermittlungen geführt habe. Vor fünfundzwanzig Jahren. Ein Mord an einem kleinen Mädchen, Ingrid hieß sie.«
»Ingrid Bengtsson?«
»Genau.«
Der Oberkellner beugte sich vor.
»Ich kann mich noch gut daran erinnern. Überall wurde damals darüber geredet. Meine große Schwester bekam nur ein paar Wochen nach dem Mord ihr erstes Kind, ein Mädchen. Es sollte eigentlich Ingrid heißen. Das war vorher schon abgesprochen gewesen; wenn es ein Mädchen wird, dann sollte es Ingrid heißen. Aber nach dem, was passiert ist … Nein, da wollten sie die Kleine nicht Ingrid taufen. Ich weiß nicht, ob sie das als schlechtes Omen angesehen haben … Aber der Name Ingrid, der hatte plötzlich etwas Unheilvolles an sich.«
Stierna leerte sein Cognacglas.
»Und wie wurde sie getauft?«
»Cecilia«, antwortete der Oberkellner.
Cecilia, dachte Stierna. Der Name war so weit von Ingrid entfernt, wie es nur ging.
Eine halbe Stunde später verließ er den Speisesaal, ging aber nicht gleich auf sein Zimmer. Stierna trat in die Visbyer Nacht hinaus. Bisher hatte er seine Spaziergänge nur tagsüber unternommen.
Die Domglocke schlug ihre dumpfen Schläge.
Hier laufe ich also und warte, dachte Stierna. Warte darauf, k.o. geschlagen zu werden. Ich weiß, das kann jeden Moment passieren. Vielleicht passiert es nie. Vielleicht in ein paar Tagen, wenn die Kirchenglocken zwölfmal läuten. Wenn endgültig klar ist, dass Ingrid Bengtssons Mörder für alle Zeiten frei sein wird.
Es war ganz logisch, dass es genau in dem Moment passieren würde, wenn der Kreis sich schloss, wenn die Verjährung in Kraft trat. In der Sekunde, wenn die Kirchenglocken in der Nacht zwischen dem zweiten und dem dritten September zwölfmal läuteten. Genau zwischen Sommer und Herbst. Vielleicht würde er dann k.o. gehen. Eigentlich schleppte
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