Der Mann im Park: Roman (German Edition)
Abenden. Vielleicht war das aber auch nur Einbildung.
Er begann mit Taube. Das war eine sichere Sache. »Sjösala vals«, ein Walzer. »Fritiof Anderssons Parademarsch«. Bellman, »Fjäriln vingad«.
Karl Gerhard war schon unsicherer. Stierna spürte immer noch die unangenehmen Vibrationen des Krieges und dieses andere, beängstigende Gefühl. Dennoch konnte er es nicht lassen, er musste es spielen, »Den ökända hästen från Troja«, das berüchtigte Pferd von Troja. Karl Gerhard hatte die Musik nicht geschrieben, sie stammte aus einem russischen Film, und das Arrangement stammte von Lille Bror Söderlundh. Aber vor allem der Text war ihm in Erinnerung geblieben, besser als die Musik.
Er spielte die Melodie, ohne zu singen, erinnerte sich aber sofort an die erste Strophe, zumindest den Anfang:
Das ist das berüchtigte Pferd von Troja,
modernisiert zur fünften Kolonne.
Major Quisling ist ein Papagei, o ja,
der imitiert so gut er kann voller Wonne.
»Das berüchtigte Pferd von Troja« aus der Revue »Gullregn«, Goldregen von 1940. Karl Gerhards Angriff auf den Nationalsozialismus. Seine Kritik der schwedischen Politik der Zugeständnisse und der Durchzugspermission für deutsche Soldaten. Natürlich wurde die Revue verboten, aufgrund der Intervention der deutschen Gesandtschaft in Stockholm und später durch das schwedische Außenministerium.
Der Nationalsozialismus war damals sehr einflussreich gewesen. Berner hatte dieses Lied geliebt, fand es einfach genial. Aber er war gezwungen, sich zu fügen, damit die Deutschen nicht verärgert wurden, und musste dafür sorgen, dass es nicht gespielt wurde.
Stierna spielte weiter. In den Jahren, als Schweden sich aus dem schlimmsten Krieg, den die Welt jemals erlebt hatte, herausmanövrierte, hatte er selbst nie in dem politischen Spiel mitmischen müssen. Er war nie gezwungen gewesen, Birger Furugård, Sven Olov Lindholm und die anderen Judenhasser auf dem eigenen Platz zu stellen. Er hatte das Ganze voller Abscheu aus der Distanz beobachtet. War mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, mit Kneipenschlägereien. Das waren die üblichen Schlägertypen, mit denen er es schon immer zu tun gehabt hatte. Aus allem Politischen hatte er sich rausgehalten.
Stierna spielte weiter. Plötzlich hörte er, wie jemand hinter ihm anfing zu singen. Es war eine kräftige Männerstimme. Nicht ganz sauber, aber voll, sie übertönte alles andere hier im Raum.
Das ist das berüchtigte Pferd von Troja,
das freigelassen wurde aus seinem Stall.
Im Stallgang beklagen sich die Staatsmänner, o ja,
aber in ihren Taschen haben sie noch einiges auf jeden Fall.
Das Pferd zu zähmen wär nicht schlecht,
das ist die höchste Politik der Neutralität.
Wir Schweden kommen mit dem Gaul doch gut zurecht,
seht, wie brav im Geschirre er bei uns geht.
Es war der Oberkellner. Der Mann, mit dem Stierna kurz über Ingrid Bengtsson gesprochen hatte, erst vor wenigen Tagen.
Andere Gäste fielen ein, nicht zögerlich und leise, sondern deutlich und energisch.
Stierna spielte eine ganze Weile. Dann aß er zu Abend, trank noch einige Bier und zum Kaffee einen Cognac. Danach ging er wieder auf sein Zimmer.
»Der Fall Ingrid« lag ausgebreitet auf dem Schreibtisch.
Die Todesanzeige lag in einem beigefarbenen Pappordner. Ganz hinten, sie war abgegriffen. Unter der kurzen Mitteilung stand in Kursiv:
Sie, die das Leben doch so liebte.
Dieser Satz war Stierna nie aus dem Kopf gegangen.
Leicht benebelt schlug er sein Tagebuch auf. Er schrieb, ohne abzusetzen, es schien, als würde die Hand von allein schreiben:
»Manchmal denke ich, dass sie heute wahrscheinlich eine Mutter wäre. Sie, die das Leben doch so liebte. Sie würde in einem Obstgarten irgendwo vor einem roten Haus mit weißen Fensterrahmen stehen, Kinder um sich herum. Sie, die Geschichten aus einem Buch in einer fremden Sprache zusammenfantasieren konnte. Jedes Mal von Neuem. Sie hätte alles Mögliche werden können. Vielleicht eine große Dichterin, jemand, der etwas schreiben kann, was berührt, etwas so viel Größeres als meine Tagebuchaufzeichnungen. Die niemand außer mir selbst jemals lesen wird. Vielleicht werde ich sie verbrennen, irgendwann. Vielleicht, ich weiß es nicht. Aber im Augenblick brauche ich sie.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich würde sie kennen. Obwohl ich sie doch nie getroffen habe, nie lebend gesehen habe. Ich weiß, was sie tat, was sie fühlte, was sie gern mochte.
Wenn die Uhr vor meinem Fenster
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