Der Mann im Park: Roman (German Edition)
dass ihn das zu einem schlechteren Läufer machte. Aber bis jetzt war er immer noch gut. Zu seinen besten Zeiten hatte es nicht viele gegeben, die ihn hatten schlagen können. Und er ging davon aus, dass es immer noch so war.
Als er die Augen schloss, dachte er an das Haus am See, in dem er aufgewachsen war. An den Vater, der mit dem schwarzen Schlagstock auf ihn gewartet hatte, Abend für Abend, Jahr für Jahr. Eine Zeit lang war er Umwege gegangen, um das Unvermeidliche hinauszuzögern, aber das hatte nur dazu geführt, dass er noch mehr Prügel hatte einstecken müssen. An die Mutter, die ihm gegenüber eigentlich nie Gefühle gezeigt hatte. Was ihn davon überzeugt hatte, dass er nichts wert war, was ihn zu einem seelischen Krüppel gemacht hatte. Was dazu geführt hatte, dass er nie eine Chance gehabt hatte.
Das saß im Rückenmark, das wurde er nie wieder los, das Gefühl, nichts wert zu sein. Das prägte sein ganzes Leben, hatte ihn zu dem gemacht, was er jetzt war. Diese Unerbittlichkeit hatte alle Möglichkeiten zunichtegemacht, normale Beziehungen aufzubauen. Zu Frauen, zu Freunden, wenn er welche gehabt hatte. Die Jahre der Erniedrigung hatten dazu geführt, dass er niemanden an sich heranließ, hatten ihn an den Punkt gebracht, an dem er sich jetzt befand.
Es war der Hass auf das Leben an sich, der ihn dazu gebracht hatte, das Mädchen zu töten. Der Hass war viel stärker gewesen als die Spannung, der Rausch, den er gesucht hatte.
In seinem tiefsten Innern wusste er, warum er Ingrid ausgesucht hatte, das war kein Zufall gewesen. Nicht nur, weil sich die Gelegenheit im Vasapark geboten hatte. Nicht nur, weil sie ein leichtes Opfer gewesen war. Da war noch etwas anderes. Sie war all das, was er als Kind nie hatte sein können: Sie fühlte sich geborgen und war glücklich, voller Zuversicht.
Das war das Los des Lebens. Es war so ungleich verteilt, ohne Sinn und Verstand, eine Lotterie mit Gewinnern und Verlierern.
Der Mord an dem Mädchen war für ihn keine sinnlose Tat gewesen. Es war seine Art gewesen, all das auf den Kopf zu stellen, einzugreifen, dort vernichtend zu wüten, wo der göttliche Herrscher geglaubt hatte, Glück geschaffen zu haben, und dies zu einem plötzlichen gewaltsamen Tod zu führen. Der Hass auf das Leben hatte ihn so weit gebracht, der Trieb, einen anderen Menschen töten zu müssen. Vielleicht würde er es wieder tun. Etwas war in ihm gewachsen, als er das Mädchen erschlug. Es schien, als hätte sich eine Tür geöffnet oder wäre zumindest einen Spalt offen, zu einem anderen Teil seines Ichs. Eine Tür, die möglicherweise nicht wieder verschlossen werden konnte, selbst wenn er es wollte.
Er ging zurück auf die Laufstrecke. Lief noch fünfmal vierhundert Meter, nur mit kurzen Pausen dazwischen. Er wollte bis zur Erschöpfung laufen, das minderte die Unruhe in seinem Körper.
Als er fertig war, zog er sich um und verließ mit Straßenschuhen den Platz. Dieses Mal wollte er nicht duschen.
Er schlenderte die Straße entlang, dann begann er wieder zu laufen, doch jetzt weitaus langsamer als auf der Bahn. Denn jetzt wollte er viel länger laufen.
Er lief um Kungsholmen herum nach Hause. Er war auf kurzen wie auch auf langen Strecken schnell. Das war ungewöhnlich. Es gab nicht viele, die so schnell waren.
Visby 1953
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Karolinas Foto stand auf dem Nachttisch in seinem Zimmer.
Die Ehe war für uns beide von Anfang an keine Selbstverständlichkeit, dachte Stierna. Weder für mich noch für Karolina.
Ich wuchs nicht unter den Ärmsten auf, aber doch unter Menschen, die immer nur gerade so zurechtkamen. Meine Eltern waren über fünf Jahre lang ein Paar, bevor sie heirateten. Ich bin nicht unehelich geboren, aber das hätte gut passieren können. Wie Ingrid Bengtsson. Vielleicht ist das ein Grund, warum ich so viel für sie empfinde. Dass wir in gewisser Weise aus den gleichen Kreisen stammen. In gewisser Weise den gleichen Hintergrund haben.
Für meine Eltern war es ganz selbstverständlich, mit der Heirat zu warten. Bis die Finanzen ausreichten, bis sie genug Geld hatten, denn eine Hochzeit kostet ein Vermögen, wenn man arm ist. Zumindest war es damals so. Also warteten sie, bis sie ihre Schäfchen im Trockenen hatten. Bis sie sicher waren, dass sie eine Familie mit Kindern versorgen konnten. Sie lebten in einer sogenannten Stockholmer Ehe, sie wohnten zusammen, aber ohne Trauschein. Was nichts Besonderes war, nicht in der Arbeiterklasse, in der ich aufgewachsen
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