Der Mann im Park: Roman (German Edition)
lag es am Schlafmangel, dass er für den Alkohol so empfänglich war.
Es waren mehr Gäste als üblich an diesem Abend im Speisesaal, rund zwanzig. Was wohl der Grund dafür sein konnte, schließlich war es ein ganz normaler Montag? Aber vielleicht lag es an den letzten Tagen des Sommers, der August würde bald vorüber sein.
Stierna bezahlte die Rechnung, griff nach seinem Stock und stand auf. Als er an dem schwarzen Klavier vorbeiging, hielt er inne. Plötzlich bekam er Lust zu spielen, wahrscheinlich lag das am Alkohol.
Das Gemurmel im Speisesaal war leise, direkt angenehm. Der Raum war groß, es waren nur vereinzelte Tische besetzt.
Stierna klappte den Deckel auf und setzte sich ans Klavier.
Ein Kellner steuerte auf ihn zu, wurde jedoch von dem Oberkellner aufgehalten.
»Lass ihn ruhig«, sagte dieser. »Wenn er spielen kann, soll er es nur tun, und sonst können wir ihn immer noch bitten zu gehen.«
Stierna drückte einige Tasten. Er begann zu spielen, Satie, das war einer seiner Lieblingskomponisten.
Er war ein wenig eingerostet, doch es ging besser, als er es sich vorgestellt hatte, trotz des leichten Rausches. Nach einer Weile kümmerte er sich nicht mehr darum, ob sein Spiel gewünscht war oder nicht. Das Klavier hatte seit seiner Ankunft in dem Wirtshaus in der Ecke des Speisesaals gestanden. Niemand hatte es angerührt, was ihn etwas geärgert hatte.
Es war gut gestimmt. Stierna nahm an, dass es im Sommer benutzt wurde, während der Werksferien, wenn die Touristen herbeiströmten.
Sie ließen ihn spielen. Der Oberkellner blieb ein paar Schritte von ihm entfernt stehen und hörte einfach nur zu. Nach einer Weile kam einer der Kellner mit einem Bier und stellte es auf das Klavier.
Auch Gäste kamen, ein Paar mittleren Alters.
»Darf man sich etwas wünschen?«, fragte die Frau, als Stierna eine Pause machte und von seinem Bier trank.
Er hörte, dass sie aus Stockholm kamen, und fragte sich, was sie wohl zu dieser Jahreszeit in Visby machten.
»Bitte, was möchten Sie denn hören?«, erwiderte er. »Aber ob ich es spielen kann, ist eine andere Sache.«
Die beiden wollten Beethoven hören, und den Wunsch konnte er ihnen erfüllen.
Stierna stand eine halbe Stunde später auf, trank sein Bier aus und wollte auf sein Zimmer gehen. Doch er wurde von dem Oberkellner aufgehalten.
»Ich … wir möchten uns bei Ihnen bedanken, Herr Stierna. Das Haus möchte sich für die schöne Musik bedanken.«
»Keine Ursache«, wehrte Stierna ab. »Wenn es gewünscht wird, versuche ich es gern mal wieder.«
Sein Zimmer lag im Dunkeln, er musste nach dem Lichtschalter tasten.
Stierna legte sich aufs Bett, musste vorher einige Papiere aus den Ermittlungen zur Seite schieben. In ein paar Tagen würde es offiziell vorbei sein. Aber die Ermittlungen waren vor langer Zeit eingestellt worden, seit vielen Jahren hatte niemand mehr an dem Fall gearbeitet. Er eigentlich auch nicht. Doch in wenigen Tagen … Dann würde der Fall, den zu lösen er alles Menschenmögliche versucht hatte, offiziell verjährt sein, mit dem Stempel »ungelöst« versehen werden. Es war fast fünfundzwanzig Jahre her, seit Ingrid Bengtsson tot auf der Djurgårdswerft gefunden worden war. Fünfundzwanzig Jahre, die Verjährungsfrist für Mord.
Er wusste irgendwo im Hinterkopf, dass es kein Zufall war, dass er ein Jahr früher seinen Dienst beendet hatte, dass er diese letzten zwölf Monate im Kriminalmuseum nicht ertragen hätte. Oder, wenn er ehrlich war, spukte das nicht nur im Hinterkopf herum, sondern er war sich dieser Tatsache vollkommen bewusst. Er wollte nicht mehr dort sein, wenn sein Versagen noch einmal im Rampenlicht stehen würde, auch wenn sich eigentlich niemand mehr daran erinnerte, abgesehen von ihm selbst, während früher alle so brennend an dem Fall interessiert gewesen waren. Die Presse, die Öffentlichkeit, die Abteilung für Gewaltverbrechen. Er hatte das Kriminalmuseum nicht verlassen, um noch einmal von vorn anzufangen, um einen neuen Abschnitt in seinem Leben zu beginnen. Es war schon seit Langem zu spät dafür. Nein, er ließ alles hinter sich, um zu fliehen. Er spürte die Furcht, eines Tages ganz unten anzukommen, er wollte nicht, dass die Menschen um ihn herum das erlebten. Diejenigen, die ihn kannten, die wussten, wer er einmal gewesen war.
Früher hatte er einmal versprochen, Ingrid Bengtssons Mörder zu finden. Nicht irgendjemandem, nein, ihrer Mutter. Doch er hatte sein Versprechen nie einlösen können, das
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