Der Mann im Schatten - Thriller
anders.
Jetzt hatte ich die Aufmerksamkeit der versammelten Damenriege. Was für Fälle ich bearbeitete? Ob ich schon mal jemanden erschossen hätte?
»Du wirkst gar nicht wie ein Polizist. Eher wie ein Wall-Street-Banker.« Diese Bemerkung stammte von der Schwarzen - oder korrekterweise sollte ich wohl sagen: Afroamerikanerin. Allerdings sprach sie mit einem starken englischen Akzent, machte sie das also nicht eher zu einer Anglo amerikanerin? Oder zu einer Afro britin? Ich erwog, sie danach zu fragen, aber ich hätte ein Megafon gebraucht, um mich über den Tisch hinweg verständlich zu machen. Außerdem, wie geschickt ich diese Frage auch formuliert hätte, vermutlich hätte sie immer politisch inkorrekt geklungen. Und was spielte es letztlich für eine Rolle? Was spielte das alles hier für ein Rolle?
»Als kleiner Junge«, brüllte ich, »wurden meine Eltern vor meinen Augen von einem bewaffneten Räuber erschossen. An diesem Tag schwor ich mir, mein Leben in den Dienst der Verbrechensbekämpfung zu stellen.«
Pete kehrte von der Toilette zurück, ein enthusiastisches Grinsen im Gesicht, und stürzte sich mit frischer Energie in das Gespräch. Ich hatte meine Zweifel, ob allein das Pinkeln
für seine Hochstimmung verantwortlich war. Ich fixierte ihn prüfend, doch er wich meinem Blick und den damit verbundenen Fragen aus.
»Jason ist Anwalt«, erklärte Pete. »Einer der besten der Stadt.«
»Ach, deshalb gehen ihm die Lügen so leicht über die Lippen.«
Ich lachte, das erste und einzige Mal an diesem Abend. Mein Blick wanderte wieder zu der Frau in Grün, und tatsächlich, sie taxierte mich erneut. Der für logisches Denken zuständige Teil meines Gehirns sagte mir, dass ich mich an irgendeinem Punkt meines Lebens wieder für Frauen interessieren würde, auch wenn es mir im Moment unvorstellbar erschien.
Ich beobachtete, wie Pete sich bei den vier Mädchen abrackerte. Der Kleine hatte es nicht leicht gehabt. Zu Hause hatte er noch wesentlich mehr abbekommen als ich. Mein Vater konnte jemandem in die Augen blicken und ihn davon überzeugen, dass er der britische Thronerbe war, doch tief in seinem Innern war er kein glücklicher Mensch. Er war verbittert und launisch, und anstatt einen Psychiater aufzusuchen, reagierte er seine Spannungen ab, indem er seine Jungs schlug. Ich hatte selbst häufig Prügel kassiert, mir aber irgendwann eine Technik zugelegt, mit der ich die härtesten Treffer meines Vaters vermied. Ich deutete eine Ausweichbewegung nach links an, duckte mich dann aber nach rechts, warf mich zu Boden, tat alles, um ihn vorbeischlagen zu lassen. Damit steigerte ich seine trunkene Rage zwar noch, erschöpfte ihn aber schließlich so, dass er seine Wut lieber an unbelebten Gegenständen austobte, etwa meiner Zimmertür oder einem Stuhl. Die Wände neben meiner Zimmertür sahen aus wie die eines Militärpostens in Beirut.
Rückblickend hatte es fast etwas Komisches, wie mein Vater fluchend auf die Luft eindrosch, während ich ihn umtänzelte oder zwischen seinen Beinen herumkroch. Wahrscheinlich hätte ich einen Boxsack in meinem Zimmer aufhängen sollen. Mein Dad hätte daran seine Wut ablassen und es unter Umständen zum Mittelgewichtsprofi bringen können. Allerdings hätte er nur wenig Freude daran gehabt, dass sein Gegenüber zurückschlug.
Sobald ich an Größe und Körpergewicht zulegte, und vor allem als ich mir einen Namen als Footballspieler zu machen begann, ließ mein Dad mich im Großen und Ganzen in Ruhe. Vermutlich weil er mich schlecht runtermachen konnte, wenn alle anderen mich lobten und aufbauten.
Entweder das, oder er hatte in seinem Alkoholdunst mitbekommen, dass ich eines Nachts tatsächlich zurückschlug. Ich habe mich immer gefragt, ob er sich wohl an meinen Haken erinnern konnte, als er am nächsten Morgen verkatert und mit blutunterlaufenem linken Auge erwachte. Das Veilchen hätte natürlich ebenso gut von einer Rauferei in einer Bar stammen können. Doch interessanterweise hörte er genau zu jener Zeit auf, mich zu prügeln, auch wenn ich nie herausfand, ob das mit meiner Gegenwehr zusammenhing. Vermutlich wäre es damals kein angemessenes Gesprächsthema beim Abendessen gewesen. Und so blieb es eines der vielen unausgesprochenen Geheimnisse unserer Familie.
Ironischerweise kamen mir meine Fähigkeiten im Ausweichen und Abducken auf dem Footballfeld sehr zugute. Jeder Verteidiger, dessen Abblockversuche ich ins Leere laufen ließ, war für mich in gewissem Sinn
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