Der Mann im Schatten - Thriller
auf dem Teller herumschob, um ihn nicht mit den Pilzen in Berührung zu bringen, die unerwarteterweise einen Teil des Gerichts bildeten und die ich verabscheute.
Ich hatte mir ein paar Wodkas genehmigt und witterte Gefahr. Ich benutzte Alkohol nicht, um der Wirklichkeit zu entfliehen, sondern um ihr kurzzeitig einen anderen Anstrich zu verleihen. Wahrscheinlich hatte sich in dieser Beziehung noch nicht viel getan. Aber ich spürte, wie meine Gefühle aus dem Lot gerieten, und ich hatte den Eindruck, dass zwischen Shauna und mir etwas Unausgesprochenes in der Luft lag.
Shauna schien mich zu taxieren, was mir nicht sonderlich behagte, doch ging sie dabei so subtil vor, dass ich schlecht wütend werden konnte. Sie besaß ein besonderes Geschick in diesen Dingen. Sie bewegte sich souverän in den unterschiedlichsten sozialen Milieus, kam mit reichen Klienten ebenso gut zurecht wie mit armen, mit Frauen ebenso wie mit Männern. Aufgrund ihrer fein geschnittenen Gesichtszüge und ihrer seidigen blonden Haaren konnte man sie wohl als hübsch bezeichnen, aber in eher unaufdringlicher Weise. Andere Frauen mochten sie, und die meisten Männer mochten
sie nicht nur, sondern waren scharf auf sie. Shauna wusste das und profitierte beruflich nicht unerheblich davon. Auf den ersten Blick beurteilten die meisten sie als ehrlich, offen, vertrauenswürdig und fähig zu echter Leidenschaft. Doch aus ihren blauen Augen sprach eine gesunde Skepsis. Sie besaß ein inneres Barometer, das sie vor zu großer Nähe und Vertraulichkeit warnte, und sie hegte ihren Mitmenschen gegenüber ein prinzipielles Misstrauen. Ich kannte niemanden, dessen Charakteranalysen so treffend waren, und ich bekam immer ein mulmiges Gefühl, wenn ihr scharfer Blick auf mir ruhte.
Sie erkundigte sich, was ich gestern getan hatte, während ich wieder einmal unentschuldigt im Büro fehlte. Die Wahrheit war, dass ich an vielen Tage immer noch nicht richtig funktionierte, niemandem von Nutzen war, die ewigen Mitleidsbekundungen nicht mehr ertragen konnte, unfähig war, mich zu konzentrieren und mir das meiste schlicht und einfach am Arsch vorbeiging. Ich erklärte ihr, ich hätte »zu Hause gelesen«, was angesichts der bewältigten Massen an Unterhaltungsliteratur nicht mal eine Lüge war. Sie schien nicht viel von meiner Antwort zu halten.
»Hast du kürzlich mal mit Pete gesprochen?«, lenkte ich das Gespräch auf ein anderes Thema. Früher hatte sie kaum Kontakt zu meinem Bruder gehabt. Shauna und ich waren gleich alt, daher hatten Pete und sie nie gleichzeitig die Highschool besucht; Pete trat gerade sein Freshman-Jahr an, als wir abgingen. Doch nachdem Talia und Emily verunglückt waren, hatten sie sich näher kennengelernt und gemeinsam das Rettet-Jason-Kolarich-Team auf die Beine gestellt. Sie hatten dafür gesorgt, dass ich rund um die Uhr Gesellschaft hatte, während ich meine Wunden leckte.
»Schon länger nicht mehr«, erwiderte sie. »Warum?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab so ein Gefühl, dass er rückfällig geworden ist und sich wieder Stoff reinzieht.«
»Kokain? Nein, davon weiß ich nichts. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das überhaupt mitbekommen würde.«
»Ja, Pete ist ziemlich gut darin, diese Dinge zu verbergen.«
»Ist es richtig schlimm? Oder nimmt er das Zeug nur, wenn er ausgeht?«
Ich wusste es nicht. »Ich bin nicht sicher, ob da ein großer Unterschied besteht. Gelegentlicher Konsum auf Partys kann nahtlos in Abhängigkeit übergehen.« Ich hob mein Wodkaglas, um bei der Kellnerin Nachschub zu ordern. Shauna war immer noch mit ihrem ersten Glas Wein beschäftigt und schüttelte den Kopf. »Ich hab mich nicht gut um ihn gekümmert, Shauna. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Erst mit dem Almundo-Fall und dann mit Talia und Emily. Dabei hab ich den Jungen ganz aus den Augen verloren. Ich habe das Gefühl, als hätte ich...«
»Bitte bring diesen Satz jetzt nicht zu Ende.« Shauna hob abwehrend die Hand. »Sag jetzt nicht, du hättest deinen Bruder im Stich gelassen.«
Dann verstummte sie. Ich hatte keine Ahnung, woher ihre plötzliche Verärgerung rührte, die sie jetzt an dem verbliebenen Stück Schweinefleisch auf ihrem Teller ausließ, während sie gereizt den Kopf schüttelte.
»Was, zum Teufel, ist dein Problem?«, fragte ich.
»Es gibt kein Problem, Kolarich. Alles in bester Ordnung.« Sie verschlang den Rest ihres Koteletts, während ich entnervt den unberührten Fisch beiseiteschob. Die Bedienung
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