Der Mann mit dem Fagott
erreichen wir Europa. Noch ein paar Stunden, dann landen wir in Zürich. Wir fliegen der aufgehenden Sonne entgegen, die den Himmel bereits in ein warmes, helles Licht taucht. Unter uns die Wolken, zu denen ich als Kind immer aufgesehen habe. Eine Stimmung der Ruhe und des Angekommenseins im Unterwegssein.
Corinna erwacht, lächelt mich mit einem Strahlen an, das die Zuversicht für ein ganzes Leben in sich trägt.
»Guten Morgen! Hast du gar nicht geschlafen?« Ich schüttle den Kopf. Die Stewardeß serviert das Frühstück. Corinna bestellt Champagner und zwei Gläser, schenkt uns ein. Wir stoßen an. »Auf die Zukunft.« - »Auf unser neues Leben.« - »Und darauf, daß alles so bleibt wie es ist und sich gleichzeitig doch immer verändert.« - »Auf die Paradoxien des Lebens, den Aufbruch zu neuen Ufern und auf die Liebe.«
Freddy und Christine sind nach vorn gekommen, stoßen mit uns an.
»Wunderbar, daß du alter Lump jetzt endlich auch unter der Haube bist«, meint er. Wir lachen, die Sonne scheint mir ins Gesicht, und ich spüre einen jener kostbaren Momente im Leben, der mir sagt, daß alles gut werden wird.
Eine Zeit erlischt - Barendorf bei Lüneburg, Januar 2001
»Weißt du, mit der Heimaterde hast du ihm eine riesige Freude gemacht, das hat ihm soviel bedeutet. Jeden Tag hat er sie angesehen und von Rußland erzählt«, raunt Hilde Bockelmann mir leise zu, um die Zeremonie nicht zu stören.
Nieselregen auf dem kleinen Friedhof in Barendorf. Die Familie, die beiden Töchter, die Enkel, Nichten und Neffen sind versammelt. Weiße Blumengebinde um sein Grab herum. Onkel Johnny ist vor einer Woche gestorben. Er ist 87 Jahre alt geworden, hat das neue Jahrtausend noch erlebt, hat am vergangenen Neujahrstag den 51. Jahrestag seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft gefeiert, seine »zweite Geburt«.
Ich habe die Nachricht von seinem Tod nach einem Konzert bekommen, bin wieder einmal auf Tournee. Der freie Tag gestern hat es möglich gemacht, daß ich heute hier sein kann.
»Ich bin so froh darüber, daß Johnny meine Rußlandreise noch miterlebt hat, daß ich ihm noch ein bißchen aus der Welt seiner Kindheit nach Frankfurt bringen konnte«, gebe ich leise zurück.
Vor wenigen Monaten war ich in Moskau auf den Spuren meines Großvaters in der Kindheitswelt meines Vaters und seiner Brüder. Ich habe das Bolschoj-Theater mit Apollo auf dem Dach gesehen, die Zarenglocke am Kreml, die Butyrka, das Bankhaus der ehemaligen Junker-Bank am Kusnezkij Most, das inzwischen zur russischen Außenhandelsbank geworden ist, habe im Hotel Metropol gewohnt, dessen Brunnen es tatsächlich noch gibt, habe das Wohnhaus gesehen, in dem inzwischen die Moskauer Straßenbaubehörde untergebracht ist und habe aus dem letzten Rest des ehemaligen Gartens, der zum Großteil inzwischen einem Parkplatz weichen mußte, Heimaterde mitgebracht.
»Er ist friedlich eingeschlafen«, flüstert Hilde, die Liebe seines Lebens, die er nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft geheiratet und mit der er sein Leben verbracht hat, ein glückliches, erfülltes Leben ohne Groll über die verlorenen Jahre, sondern voll Dankbarkeit über sein Überleben, die Chance, alt zu werden, die
nicht viele Schicksalsgenossen hatten. Hilde hat auch am Ende seine Hand gehalten.
»Er hat noch gesagt, Rudi, Werner, Erwin und Mama seien gekommen, sie seien im Zimmer, ich müsse sie doch sehen, sie seien gekommen, um ihn zu holen, sie würden auf ihn warten. Es hat ihn getröstet, von da an war er ganz ruhig.« Sie schluckt schwer, dann lächelt sie. »Und er ist in einem Anzug von Adolf Sterzig, dem Schneider aus dem Lager beerdigt worden, darauf hat er bestanden. Weder im Leben noch im Tod wolle er einen Anzug tragen, der nicht von Adolf Sterzig gemacht sei. Typisch Johnny …«
Ich nicke lächelnd. Nachdenklich sehe ich auf die Gräber vor uns. Außer meinen Eltern, die in Ottmanach begraben sein wollten, solange einer von uns Söhnen dort lebt und außer Heinrich, der kurz vor Kriegsende in Meran gestorben ist und dort beerdigt wurde, liegt die ganze Familie hier: Werner, Erwin, Gert, der kleine Mischa, meine »schwarze Omi« Anna, sogar Pascha und nun auch Onkel Johnny. Vor wenigen Wochen habe ich ihn noch besucht und ihm ein baldiges Wiedersehen versprochen, spätestens wenn die Tournee mich wieder nach Frankfurt führt. Das wäre in vier Wochen gewesen. Nun wird er hier in Barendorf beerdigt, direkt neben dem Weg, den er vor fast
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