Der Mann mit dem Fagott
fünfzig Jahren nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft gegangen ist, dem Weg am Friedhof vorbei nach Scharnebeck, dem Weg, den er geradeaus ging und auf dem er zum ersten Mal begriff, was es bedeutete, wieder frei zu sein.
Nun ist also der letzte der fünf Brüder gestorben, der letzte aus der Generation meines Vaters. Und vielleicht ist es das letzte Mal, daß die Familie hier zusammenkommt. Das Gut Barendorf, das Heinrich 1920 gekauft und lange mit seiner Familie bewohnt hat, ist ohnehin schon lange nicht mehr im Familienbesitz. Die verbliebene Villa und der Rest des Grundstücks, das Haus, in dem ich die letzte Kriegszeit und das Kriegsende erlebt habe, soll nun ebenfalls verkauft werden. Dann wird einzig der Lamisch in Österreich, auf dem mein Bruder Manfred heute lebt, von Heinrich Bockelmanns ehemaligem Imperium übrig sein. Ein karger Rest.
Beinahe die ganze Ortschaft Barendorf hat einst den Bockelmanns gehört. Das Gut war jahrzehntelang der größte Arbeitgeber
der Gemeinde. Doch wenn man heute junge oder neu zugezogene Bürger der Gemeinde nach dem Namen Bockelmann fragt, ist er kaum noch jemandem ein Begriff. Spuren verwischen. Heute schneller denn je. Und wenn die Kränze auf Onkel Johnnys Grab verwelkt, die Wunden in der frisch ausgehobenen Erde verschlossen sein werden, wird auch er in Vergessenheit geraten, dann wird eine große Zeit erloschen sein.
In der zum Verkauf ausgeschriebenen Villa mit Onkel Gerts in Afrika geschossenem Löwen an der Wand heben wir ein letztes Mal das Glas auf Onkel Johnny, dann muß ich weiter. Abends habe ich meinen nächsten Auftritt in Hannover. Keine Zeit, innezuhalten. Ich werde ihm den heutigen Abend widmen, mehr kann ich nicht mehr tun. Und in mir entsteht eine Frage, setzt sich in meinen Gedanken fest: Was, wenn ich das Haus kaufe, eine Begegnungsstätte hier einrichte, das Gestern mit dem Heute verbinde und ins Morgen führe, aus Tradition und dem, was mein Großvater erschaffen hat, etwas Neues entstehen lasse? Könnte ich, der Enkel, von dem mein Großvater sicher am wenigsten erwartet hat, derjenige sein, der die alte Zeit vor dem Versinken bewahrt? Oder wäre es ein Festklammern an etwas, das nur im Gestern seine Erfüllung fand? Die Frage wird mich sicher in den nächsten Monaten beschäftigen.
Noch ein paar Schritte geradeaus gehen auf Onkel Johnnys »Freiheitsweg«, dann kommt mein Fahrer und holt mich ab. Schnell versinkt Barendorf im Dunst des Nieselregens hinter uns.
Brücken zwischen den Zeiten - Wien, Juli 2001
Das 67 Meter hohe Riesenrad dreht sich langsam hoch über meinem Kopf. In den Gondeln Paare auf Flitterwochen, Großeltern mit ihren Enkelkindern, ganze Familien, Touristen, Schulklassen, Jungverliebte. Von der nahen Straße her mischt sich das Hufgeklapper der Fiaker wie vor hundert Jahren mit dem Straßenlärm des 21. Jahrhunderts.
Stimmengewirr. Clowns, Akrobaten, Feuerschlucker, ein Spiegelkabinett, kleinere Fahrgeschäfte, Zuckerwatte, ein Leierkastenmann. Jemand führt einen Schimpansen an der Leine, ein anderer jongliert. An einer Wurfbude kann man Stofftiere gewinnen, an einer Schießbude Rosen mit einem Gewehr erbeuten. Nur die Mode und einige sehr neuzeitliche halsbrecherische Fahrgeschäfte unterscheiden den Prater von heute von jenen Bildern von früher, die man kennt. Die Menschen tragen keine Hüte mehr, die Frauen keine langen Kleider und Sonnenschirme, sonst scheint sich in Wiens Naherholungs- und Vergnügungspark, dem ehemaligen kaiserlichen Jagdgebiet, das vom fortschrittlichen Kaiser Josef II. im 18. Jahrhundert dem Volk gewidmet wurde, nicht viel geändert zu haben. Jedesmal wieder ein Eintreten in eine ganz andere Welt.
An einer Litfaßsäule ein Plakat, das für mein Konzert in der Staatsoper wirbt, überklebt mit dem »Ausverkauft!«-Schild. Bald wird es abgenommen und durch ein anderes ersetzt worden sein. Das Konzert ist einige Tage her, und noch immer habe ich nicht ganz begriffen, daß ich tatsächlich in den »Heiligen Hallen« der Staatsoper gespielt, daß ich dort ein Solo-Konzert ganz allein am Klavier, bei manchen Liedern unterstützt von dem Geiger Christian Fink, gegeben habe. Ein Höhepunkt meiner Karriere, und wieder der Gedanke: Was, wenn meine Eltern das noch miterlebt hätten?
Mehr als fünfzig Jahre ist es her, seit meine Mutter mich als Sechzehnjährigen auf meiner ersten Reise nach Wien zu meinem ersten Schritt in die Musikwelt, dem Finale des großen österreichischen Komponistenwettbewerbs
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