Der Mann mit den zwei Gesichtern
HABEN MITGELESEN?“
In diesem Moment verstummte die Musik. Die so plötzlich einsetzende Stille summte in Franziskas Ohren. Gerds Stimme klang mit einem Mal furchtbar laut: „ICH WAR IMMER KLASSENBESTER IM ABSCHREIBEN. VERKEHRT HERUM LESEN WAR MEINE SPEZIALITÄT.“
Franziska zuckte zurück und rieb sich das Ohr.
„Oh Verzeihung.“ Seine Arme schnellten nach vorn, er griff ihre Hände und drückte sie entschuldigend.
„Das ist d...“, fing sie an.
RUMMS. Die Musik setzte mit einem Paukenschlag wieder ein. Franziska zuckte zusammen. Resigniert lächelnd hob sie die Hände und schüttelte den Kopf. Eine Unterhaltung war völlig ausgeschlossen.
*
Er sah Franziska den letzten Schluck Wein aus der Karaffe nehmen und ihren Teller von sich schieben. Sie lächelte und bewegte die Lippen.
Fragend beugte er sich in ihre Richtung. „WAS?“
„ES WAR LECKER.“
Er nickte. „Ja, lecker war es.“
„Was?“
„JA, ES WAR LECKER.“
Sie lachten. Mehr hatten sie während des Essens auch nicht tun können. Lachen und nicken und lächeln und grinsen. Nicht, dass er etwas dagegen gehabt hätte. Auf diese Weise hatte er ausreichend Gelegenheit dazu gehabt, Franziskas Gesicht zu studieren. Wie ihre Augen in unterschiedlicher Intensität strahlen konnten. Wie ihre Augenbrauen sich dazu bewegten. Ihre Stirn sich ein wenig runzelte.
Mit jedem gemeinsamen Lachen, mit jedem Schluck Wein war sie gelöster geworden. Intensiver. Mutiger. Ihm in die Augen zu schauen, ihre Blicke länger andauern zu lassen und noch länger. Sie war wunderbar. Das konnte man nicht anders sagen.
„HABEN SIE GESEHEN?“
„Äh“, nein. Er hatte nur sie gesehen.
Sie deutete mit den Augen in den Raum. „SIE HABEN BEGONNEN ZU TANZEN.“
Widerstrebend riss er sich von ihrem Gesicht los und folgte ihrem Blick. Oh ja, das hatte er tatsächlich nicht bemerkt. Auf der Tanzfläche bewegten sich zwei Paare zu ein wenig nerviger Popmusik.
Moment. Seine Augen schnellten zu ihr zurück. Das war eine Aufforderung gewesen. Er war aufgesprungen, noch ehe er zu Ende gedacht hatte. „DARF ICH BITTEN?“
Strahlend erhob sie sich. Wandte sich unmittelbar danach schon zu ihm um. Erwartungsvoll. Sie erwartete, dass sie die klassische Tanzhaltung einnahmen. Gut so.
Behutsam zog er sie an sich und begann einen Discofox. Es dauerte einige Takte, bis sie sich aneinander gewöhnt hatten, doch dann klappte es hervorragend. Seine Füße machten die Tanzschritte von allein, und er konnte sich auf Franziskas Hüfte unter seiner rechten Hand konzentrieren. Er fühlte ihre fließenden Bewegungen an seiner Vorderseite, ihre Hand, die warm an seiner Schulter ruhte, jedoch von Zeit zu Zeit ein wenig verschoben wurde.
Es war herrlich, mit ihr zu tanzen. Ja, diese Frau war perfekt.
*
Ui, ihr war schwindelig. Franziska musste sich anlehnen, ihren Kopf an seine Schulter legen. Ja, so war es besser. Gerd tanzte und wirbelte jetzt schon eine ganze Weile mit ihr herum.
Sie hätte nicht so viel trinken dürfen. Das erste Viertel Wein war ja noch in Ordnung gewesen, das zweite jedoch schon zu viel. Bereits das hätte sie durch Wasser ersetzen sollen. Aber der Wein war so fruchtig gewesen und so passend zu dem stark gewürzten Braten. Und so hatte sie das dritte Viertel, das plötzlich auf dem Tisch gestanden hatte, auch noch angenommen. Genau das rächte sich jetzt. Hui. Schon wieder eine schnelle Drehung. Sie musste sich fester halten. Franziska verstärkte ihren Griff auf Gerds Schulter.
So konnte sie nicht mehr Auto fahren. Auf keinen Fall. Sie sollte sich also bald darum kümmern, ein Zimmer für die Nacht zu bekommen. Gab es hier, in diesem Gasthof vielleicht ...? Sie hatte nicht aufgepasst. Aber in der nächsten Musikpause würde sie Gerd fragen. Aber jetzt erst einmal tanzen.
Seine Bewegungen waren weich und bestimmt. Er führte – und sie konnte gar nicht anders, als ihm zu folgen. Sich zu drehen und zu drehen. Und noch einmal. Uff, so schön es auch war, lange würde sie das nicht mehr aushalten!
Doch zu ihrem Glück wurde die Musik leiser und endete. Gerd blieb stehen, löste sich aber nicht von ihr. Seine Hand, nun gesenkt, hielt die ihre, sein Arm lag weiterhin auf ihrer Hüfte. Zum Ausgleich ließ Franziska ihren Kopf, wo er war, an seiner Schulter. Sie hatte das Gefühl, sich noch immer weiter zu drehen und schob sich Halt suchend ein wenig näher an ihn heran.
Da setzte die Musik wieder ein. Diesmal mit einem langsamen Stück. Oh gut,
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