Der Mann mit den zwei Gesichtern
Immer ernst. Dennoch, Franziska wusste, er wartete auf ein Zeichen von ihr. Welches ihm signalisieren würde, dass der Weg frei war für ihn.
„Übelkeit und Halsschmerzen“, antwortete sie wahrheitsgemäß.
„Oh“, er war aufgesprungen, lief um den Schreibtisch herum. „Hast du dich unten vielleicht angesteckt?“
Er tastete nach Lymphknoten an ihrem Hals. „Hm, ja, ein wenig geschwollen“, murmelte er. „Am besten, du gehst jetzt nach Hause, nimmst ein heißes Bad und ruhst dich aus.“
Oh ja, das wäre so schön. Franziska war zu müde, um dieses verlockende Angebot abzulehnen. „Danke“, sagte sie schlicht und stand auf.
„Soll ich später zu dir kommen? Ich könnte was zu essen mitbringen.“
Das hatte er natürlich fragen müssen. Franziska wandte sich ihm zu, schüttelte den Kopf. „Hat keinen Sinn. Ich bin so erledigt, dass ich gleich ins Bett gehe.“
Er brachte sie noch auf den Flur hinaus.
„Kurier dich aus. Nicht, dass du mir noch ganz ausfällst“, sagte er mit Zärtlichkeit in der Stimme.
Das konnte Franziska im Moment nun wirklich nicht brauchen. In ihr zog sich alles zusammen. Eilig ging sie davon.
*
Tom sah Franziska nach und seufzte. Es war richtig, dass er sie nach Hause geschickt hatte. Sie war wirklich blass. Kränkelnd. Seit Tagen schon. Seit Wochen?
Ob sie immer noch diesem Typen nachweinte, auf den sie zuerst tagelang vergeblich gewartet hatte – um dann schmerzlich um ihn zu trauern? Tom stieß ein Schnauben aus. Was musste das für ein Mann sein, der eine Frau wie Franziska leichtfertig fallen ließ?
Mit einer abrupten Bewegung drehte er auf dem Absatz um und ging eilig den Gang hinunter. Auch er könnte eine Pause gut gebrauchen. Vielleicht war ihm wenigstens ein Kaffee im Schwesternzimmer vergönnt, ehe er den neuen Patienten untersuchen würde.
*
Sie hatte Tom angelogen.
Ja, sie war müde. Schon seit Tagen. Und ja, ihr Hals kratzte tatsächlich. Und das war womöglich wirklich eine beginnende Erkältung. Aber die Übelkeit – sie hatte keinen Magen-Darm-Infekt. Nein, sicher nicht. Franziska hatte einen ganz anderen Verdacht. Und dieser Verdacht machte sie viel fertiger, als sie sich das jemals hätte vorstellen können.
Zuhause angekommen, sah sie rein routinemäßig zum Anrufbeantworter. Er blinkte. Eine neue Nachricht. Sie drückte auf den Wiedergabeknopf, ohne dass ihr Herz schneller schlug. Gerd war es sicher nicht.
Davon, dass es Tom war, war sie auch nicht überrascht. Er wollte noch einmal nachfragen, ob sie wirklich alles hätte, was sie brauchte, und ob er nicht vielleicht doch noch kommen solle.
„Danke, den Schwangerschaftstest hab ich bereits und bitte, komm nicht“, murmelte sie und ging ins Bad. Dort öffnete sie die aus der Klinik mitgebrachte Packung, holte Teststab und Becher heraus. Gleich würde sie Bescheid wissen.
Positiv.
Das Ergebnis überraschte sie nicht wirklich. Seit vor ein paar Tagen diese Übelkeit eingesetzt hatte, hatte sie es geahnt. Ruhig betrachtete sie den blauen Streifen im Sichtfenster. Sie war schwanger. Sollte sie sich freuen, weil sie ein Kind bekommen würde? Oder war es doch eher angebracht, verzweifelt zu sein, weil sie nicht verhütet hatte? Sie war angehende Ärztin und sollte wissen, wie das geht. Außerdem hatte sie keinen Vater für dieses Kind.
Doch sie war völlig gleichmütig, fühlte sich innerlich nur taub – und müde. Ja, vor allem hundemüde. Sie würde jetzt sofort ins Bett gehen und sich später Gedanken machen. Jetzt konnte sie nicht mehr.
Grüne Wiesen, eine Schaukel, Kindergeschrei und Lachen. Sie stand da und sah, wie das kleine Mädchen auf der Schaukel hin- und herschwang. Wie es begeistert kreischte: „Fester, Mama.“
Franziska fuhr aus dem Schlaf hoch. Ein Kind hatte zu ihr Mama gesagt. Im Traum.
Aber auch in der Realität würde das bald so sein. Weil sie schwanger war. Von Gerd.
Sein Kind würde sie bekommen, das sie dann Mama nennen würde. Und Gerd ...? Er würde es nicht wissen. Nicht einmal ahnen würde er es. Aber es wäre ein Stück von ihm. Seine Gene. Auf diese Art würde sie ihn also nicht ganz verlieren.
Sie legte die Hand auf ihren Unterbauch. Da drin war irgendwo ein winzig kleines Wesen, das einmal ihr Kind sein würde. Falsch, verbesserte sie sich. Es war bereits da. Es war bereits ihr Kind. Und es gab keinen Grund, sich nicht darüber zu freuen.
Plötzlich brach sie in Tränen aus. Sie würde ein Kind bekommen, von einem Mann, der sie
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