Der Mann mit den zwei Gesichtern
lassen und ansonsten am besten schweigen.
„Und jetzt die Luft anhalten.“
Franziska seufzte. Sie hatte sich wohl angesteckt. Es kratzte im Hals und übel war ihr auch. Aber das musste sie nicht wundern. Ihr ging es ja auch nicht gut. Seit über drei Wochen wartete sie bereits auf Gerds Anruf, stürzte jeden Tag nach der Arbeit nach Hause, um jedes Mal wieder völlig die Fassung zu verlieren, wenn der Anrufbeantworter blinkte. Leider stets vergebens. Alle riefen sie an. Ihre Mutter, die sie zum sonntäglichen Kaffeestündchen einlud. Andrea, wenn sie dienstfrei hatte, um sich mit ihr zu verabreden. Die Stromwerke, weil angeblich noch eine Rechnung beglichen werden müsse, was sich dann aber als Fehler ihrerseits herausstellte. Die Autowerkstatt, dass der bestellte Ersatzreifen geliefert worden sei. Sogar Tom, um Dienstplanänderungen zu besprechen, obwohl sie sich hier in der Klinik täglich und wirklich mehr als genug sahen. Alle, alle, alle, alle riefen an, nur Gerd nicht.
„Manchmal brauchen sie ein wenig“, hatte Andrea anfangs gesagt. Dann war sie dazu übergegangen, bedauernd den Kopf zu schütteln, wenn sie Franziskas trauriges Achselzucken sah. Jetzt reagierte sie gar nicht mehr.
Franziska wusste, dass es vorbei war. Jede mögliche Verzögerungsfrist, die sie sich aus den Fingern gesogen hatte, war längst abgelaufen. Gerd würde sich nicht melden. Dieser Tatsache musste sie sich endlich stellen.
Mit Sicherheit war er damals froh gewesen, dass er sie am Morgen nicht mehr hatte sehen müssen. Womöglich hatte er sie sogar gehört und sich nur schlafend gestellt, dankbar, dass sie ihnen beiden auf diese Art die Peinlichkeit eines Abschiedes für immer erspart hatte.
Sie hatte sich in ihm getäuscht. Gerd, der ihr wie ihr Traummann erschienen war, war endgültig verschwunden aus ihrem Leben. Und sie musste sich nicht wundern, wenn dieser Gedanke sie schwächte und krank machte.
Oh. Die Patientin lief bereits blau an. Atmete die tatsächlich immer noch nicht?
„Sie können weiteratmen.“ Franziska senkte das Stethoskop und zog die Stöpsel aus den Ohren. „Es ist eine ausgewachsene Bronchitis.“
„Keine Lungenentzündung?“, keuchte die Frau auf der Untersuchungsliege.
„Noch nicht“, sagte Franziska. „Aber sie müssen sich schonen, sonst wird es noch eine. Mindestens zwei Wochen lang keine körperliche Anstrengung, kein Sport, nichts tragen.“
„Sie haben gut reden“, erwiderte die Frau. „Versorgen Sie mal vier Kinder und strengen sich dabei nicht an.“
„Kann nicht Ihr Mann ...?“
„Ich bin alleinerziehend.“
Franziska sah die Frau mitleidig an. Das war bestimmt sehr hart.
„Verwitwet. Ich kann nicht ausfallen.“
„Tut mir leid“, sagte Franziska. „Unter diesen Umständen schreibe ich Ihnen wohl besser ein Antibiotikum auf.“
„Danke“, sagte die Frau schlicht und zog ihren Pullover wieder herunter. „Schlimm genug, dass ich jetzt schon drei Tage in den Seilen hänge. Aber noch eine ganze Woche – das geht überhaupt nicht.“
„Auch mit Antibiotikum müssen sie sich schonen“, sagte Franziska. „Die Wirkung werden sie zwar spätestens nach achtundvierzig Stunden spüren und sich besser fühlen, gesund sind sie deswegen aber noch nicht.“
„Ich weiß“, sagte die Frau. „So ist es immer. Ich mach ja auch langsamer. Hauptsache aber ist, ich falle nicht vollständig aus.“
„Wie alt sind denn Ihre Kinder?“
„Zwölf, elf, sieben und fünf Jahre“, antwortete die Frau mit Stolz in der Stimme. „Alles Jungs.“
Franziska zwinkerte ein wenig. Vier Jungen. „Da ist sicher was los bei Ihnen.“
„Darauf können Sie wetten.“ Die Frau hustete wieder, zog sich aber unverdrossen weiter an. „Haben Sie Kinder?“
„Noch nicht.“
„Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf“, sagte die Frau und schlüpfte in ihre Schuhe. „Wenn Sie welche wollen: Schauen Sie sich den Vater dazu ganz genau an. Wissen Sie, ich gehe immer wieder zum Alleinerziehendentreff. Da hört man Sachen, Ts, ts. Da steh ich mit meiner Witwenschaft noch richtig gut da.“
Franziska, die schnell etwas auf den Rezeptblock geschrieben hatte, reichte der Frau den Zettel: „Hier, Frau Richter, Ihr Rezept – und gute Besserung.“
Die Frau verließ den Untersuchungsraum und Franziska sah auf die Nummernanzeige. Niemand mehr. Das Wartezimmer war endlich leer. Nun ja, die offene Sprechstunde war auch so gut wie vorüber. Jetzt ging es also noch einmal für drei Stunden auf die
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