Der Mann mit der Ledertasche.
mit zehn oder zwölf Wohnungen. Der verschließ- bare Briefkasten war vor dem Haus, unter einem Vordach. Endlich ein bißchen Schatten. Ich steckte meinen Schlüssel in den Kasten und machte ihn auf.
»HEH, UNCLE SAM! WIE GEHT'S, WIE STEHT'S?«
Er war laut. Ich hatte diese Stimme hinter mir nicht er- wartet. Er hatte mich praktisch angeschrien, und weil ich mit meinem Kater ziemlich nervös war, machte ich vor Schreck einen kleinen Satz. Ich hatte die Nase gründlich voll. Ich zog den Schlüssel aus dem Kasten und drehte mich um. Ich sah nichts als ein Fliegengitter an der Tür. Irgend jemand war da drin. Vollklimatisiert und unsichtbar.
»Herrgott Sakrament!« sagte ich, »nennen Sie mich nicht Uncle Sam! Ich bin nicht Uncle Sam!«
»Aha, Sie sind wohl einer dieser Klugscheißer, was? Für ein Taschengeld würde ich rauskommen und Ihnen den Arsch versohlen!«
Ich nahm meine Ledertasche und schleuderte sie auf den Boden. Zeitschriften und Briefe flogen durch die Gegend. Ich würde die ganze Schleife neu sortieren müssen. Ich nahm meine Mütze ab und knallte sie auf den Beton- boden.
»KOMM DOCH RAUS, DU SCHEISSKERL! HERR GOTT, SO KOMM DOCH SCHON! KOMM RAUS! LOS DOCH, KOMM RAUS!«
Ich war entschlossen, ihn umzubringen.
Niemand kam raus. Kein Ton war zu hören. Ich starrte auf das Fliegengitter. Nichts. Es war, als sei die Wohnung leer. Einen Augenblick lang erwog ich, hineinzugehen. Dann wandte ich mich ab, kniete mich hin und fing an, die Briefe und Zeitschriften neu zu sortieren. Das ist nicht einfach ohne Verteilerkasten. Nach zwanzig Minuten war es ge- schafft. Ich steckte einige Briefe in den Briefkasten, warf die Zeitschriften auf die Veranda, schloß den Kasten wieder ab, machte kehrt; warf noch einen Blick auf die Fliegentür. Immer noch kein Ton.
Ich erledigte den Rest der Route und dachte dabei, na ja, wahrscheinlich wird er anrufen und Jonstone sagen, daß ich ihn bedrohte. Wenn ich zum Postamt zurückkomme, muß ich mit dem Schlimmsten rechnen.
Ich machte die Tür auf, und da war Stone; er saß an seinem Schreibtisch und las irgendwas.
Ich stand da und schaute auf ihn runter und wartete.
Stone blickte zu mir herauf, dann wieder zurück zu seiner Lektüre.
Ich blieb stehen, wartete.
Stone las weiter.
»Na los«, sagte ich schließlich, »was ist nun damit?«
»Was ist nun womit?« Stone blickte auf.
»MIT DEM ANRUF! NUN RÜCKEN SIE SCHON RAUS DAMIT! ANSTATT EINFACH HIER RUMZUSITZEN!«
»Was für ein Anruf denn?«
»Hat niemand wegen mir angerufen?«
»Angerufen? Was ist geschehen? Was haben Sie da drau- ßen angestellt? Was haben Sie getan?«
»Nichts.«
Ich ging hinüber und lieferte mein Zeug ab.
Der Typ hatte nicht angerufen. Gar nicht nobel von ihm. Wahrscheinlich fürchtete er, wenn er anrief, würde ich zu- rückkommen.
Ich ging an Stone vorbei, als ich zu meinem Verteiler- kasten zurückkehrte.
»Was haben Sie da draußen bloß getan, Chinaski?«
»Nichts.«
Mit meinem Verhalten verwirrte ich Stone dermaßen, daß er vergaß, mir meine halbstündige Verspätung vorzuwerfen oder mir deswegen eine Verwarnung aufzuschreiben.
16
Einmal saß ich früh morgens beim Briefeverteilen neben G. G. So nannten sie ihn: G. G. Sein voller Name war George Greene. Aber jahrelang wurde er einfach G. G. genannt, und schließlich sah er dann auch aus wie G. G. Er war Brief- träger seit seinen frühen Zwanzigerjahren, und jetzt war er Ende sechzig. Seine Stimme war kaputt. Er redete nicht. Er krächzte. Und wenn er mal krächzte, sagte er nicht viel. Er war weder beliebt noch unbeliebt. Er war einfach da. Sein Gesicht war zerknittert und voller seltsamer Furchen und nicht gerade attraktiver Erhebungen. In seinem Gesicht war keinerlei Glanz. Er war einfach ein harter alter Bursche, der seine Arbeit getan hatte: G. G. Die Augen sahen aus wie matte Lehmklumpen, die in den Augenhöhlen saßen. Es war am besten, nicht an ihn zu denken, ihn gar nicht anzusehen.
Mit all seinen Dienstjahren hatte G. G. jedoch eine der leichtesten Routen, am Rande des Distrikts, in dem die Reichen wohnten, praktisch im Reichenviertel selber. Ob- wohl die Häuser alt waren, waren sie groß, die meisten zwei- geschossig. Ausgedehnte Rasenflächen, von japanischen Gärtnern gemäht und gepflegt. Einige Filmstars wohnten dort. Ein berühmter Karikaturist. Ein Verfasser von Best- sellern. Zwei ehemalige Gouverneure. Niemand sprach einen in dem Distrikt jemals an. Nur am Anfang der Route, wo die weniger teuren Häuser standen, bekam man
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