Der Mann mit der Ledertasche.
Post vor mir als G. G.
Vielleicht kann ich ihm mit den Zeitschriften helfen, dachte ich. Doch dann kam einer der Angestellten vorbei und brachte mir eine neue Ladung Briefe, und ich hatte fast wieder soviel wie G. G. Es würde für uns beide knapp wer- den. Ich ließ mich einen Augenblick gehen, biß dann auf die Zähne, spreizte die Beine, stürzte mich auf die Post wie einer, der eben einen schweren Treffer eingesteckt hat, und steckte die Briefe in die Fächer.
Zwei Minuten bevor die Zeit abgelaufen war, waren G. G. und ich fertig, die Post war verteilt, die Zeitschriften sortiert und in Säcke verpackt, die Luftpost erledigt. Ich hatte mir umsonst Gedanken gemacht. Dann kam Stone. Er brachte zwei Bündel Rundschreiben. Eins gab er G. G., eins mir.
»Die müssen noch sortiert werden«, sagte er und ging wieder.
Stone wußte, daß wir das nicht mehr rechtzeitig schaffen konnten. Müde und lustlos durchschnitt ich die Schnur, die die Rundschreiben zusammenhielt, und fing an, sie zu ver- teilen. G. G. saß nur da und starrte sein Bündel an.
Dann ließ er den Kopf sinken, ließ den Kopf auf die Hände sinken und fing an, leise zu weinen.
Ich konnte es nicht glauben.
Ich blickte mich um.
Die anderen Zusteller sahen G. G. nicht. Sie holten ihre Briefe herunter, banden sie zusammen und lachten und unterhielten sich.
»He«, sagte ich ein paarmal, »he!«
Doch sie schauten sich nicht nach G. G. um.
Ich ging zu ihm hin. Berührte ihn am Arm: »G. G.«, sagte ich, »kann ich dir irgendwie helfen?«
Er sprang auf, rannte die Treppe hinauf, die zum Um- kleideraum für die männlichen Angestellten führte; ich sah hinter ihm her. Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Ich verteilte noch ein paar Briefe und lief dann selber die Treppe hinauf.
Da war er, an einem der Tische, das Gesicht in den Hän- den vergraben. Nur daß er jetzt nicht mehr leise weinte. Er schluchzte und heulte. Sein ganzer Körper zuckte. Er hörte überhaupt nicht mehr auf.
Ich rannte wieder hinunter, an all den Zustellern vorbei, zu Stones Schreibtisch.
»He, he, Stone! Herr Gott, Stone!«
»Was ist?« fragte er.
»G. G. ist zusammengeklappt! Niemand kümmert sich um ihn! Er ist oben und heult! Er braucht Hilfe!«
»Wer übernimmt seine Route?«
»Das ist doch scheißegal! Ich sage Ihnen, der Mann ist krank! Er braucht Hilfe!«
»Ich brauche schnell einen Ersatzmann für seine Route!«
Stone stand auf und mischte sich unter seine Leute, als ob er unter ihnen einen Ersatzmann für G. G. finden könnte. Dann bahnte er sich einen Weg zurück zu seinem Schreib- tisch.
»So hören Sie doch, Stone, jemand muß diesen Mann nach Hause bringen. Sagen Sie mir, wo er wohnt, dann fahre ich ihn selber heim — die Zeit können Sie mir abziehen. Dann trage ich Ihre verdammte Route aus.«
Stone blickte auf.
»Wer geht an Ihren Verteilerkasten?«
»Ich scheiß auf den Verteilerkasten!«
»GEHEN SIE AN IHREN VERTEILERKASTEN!«
Dann redete er am Telefon mit einem anderen Inspektor: »He, Eddie? Hör zu, ich brauche einen deiner Leute hier...«
Die Kinder würden an diesem Tag keine Bonbons bekommen. Ich ging zurück. All die anderen Zusteller waren fort. Ich fing an, die Rundschreiben zu verteilen. Drüben auf G. G.s Kasten lag sein Bündel Rundschreiben, noch nicht mal aufgeschnitten. Ich war wieder gewaltig im Rückstand. Ohne Mannschaftswagen. Als ich an diesem Nachmittag spät zurückkam, bekam ich eine schriftliche Verwarnung von Stone.
G. G. sah ich nie wieder. Niemand konnte sagen, was mit ihm geschehen war. Und niemand erwähnte jemals seinen Namen. Der »gute Kerl«. Der hingebungsvolle Mann. Er war über eine Handvoll Rundschreiben von einem Gemüse- laden gestolpert — mit dem Angebot des Tages: eine Gratis- packung Markenseife, zusammen mit dem Rundschreiben und einem Einkauf von mindestens $ 3.
17
Nach drei Jahren bekam ich den Status eines »Regulären«. Das hieß bezahlter Urlaub (Aushilfen bekamen keinen Ur- laub) und eine 40-Stunden-Woche mit zwei freien Tagen. Außerdem war Stone gezwungen, mich für fünf verschie- dene Routen als Ersatzmann einzuteilen. Das war alles — fünf verschiedene Routen. Mit der Zeit würde ich die dazu- gehörigen Verteilerkästen lernen, ebenso die Abkürzungen und Schwierigkeiten jeder Route. Von Tag zu Tag würde es leichter werden. Ich konnte mir langsam diesen Ausdruck des Behagens zulegen.
Aber irgendwie war ich nicht glücklich. Ich war kein Mensch, der sich bewußt Schmerzen bereitet, die Arbeit war immer
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