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Der Mann mit der Ledertasche.

Der Mann mit der Ledertasche.

Titel: Der Mann mit der Ledertasche. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Bukowski
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bestehen, damit ich diesen Job behalten kann.« »Tabellen? Was sind denn das für Tabellen?«
»Das ist, wenn die Leute die Nummer des Zustellbezirks nicht auf den Brief schreiben. Wir müssen diese Briefe ver- teilen. Und deshalb müssen wir diese Tabellen lernen, und das nach zwölf Stunden Arbeit in jeder Nacht.«
»Und?«
»Ich kann die Tabelle nicht in die Hand nehmen. Wenn ich sie in die Hand nehme, rutscht sie mir aus den Fingern.«
»Sie können diese Tabellen nicht lernen?«
»Nein. Und ich muß in einem Glaskäfig hundert Karten verteilen, acht Minuten, mit mindestens 95 Richtigen, oder ich flieg raus. Und ich brauche den Job.«
»Warum können Sie diese Tabellen nicht lernen?«
»Deshalb bin ich ja hier. Um Sie zu fragen. Ich muß ver- rückt sein. Aber da sind all diese Straßen, und sie gliedern sich alle wieder anders. Hier, sehen Sie.«
Und dann würde ich ihm die sechsseitige Tabelle geben, oben zusammengeheftet, beidseitig mit kleinen Buchstaben bedruckt.
Er würde kurz durchblättern.
»Und man erwartet von Ihnen, daß Sie das lernen?«
»Ganz richtig, Herr Doktor.«
»Nun, mein Junge«, und er würde mir die Liste zurück- geben, »Sie sind nicht verrückt, nur weil Sie das nicht lernen wollen. Ich würde eher sagen, Sie wären verrückt, wenn Sie das tatsächlich lernen wollten. Dann bekomme ich also 25 Dollar von Ihnen.«
Deshalb analysierte ich mich selber und behielt das Geld.
    Doch es mußte etwas geschehen.
Dann hatte ich es. Es war vormittags, zehn Minuten nach neun. Ich rief die Personalabteilung im Gebäude der Bun- desvertretung an.
»Miß Graves. Ich möchte mit Miß Graves sprechen, bitte.«
»Hallo?«
Das war sie. Dieses Weib. Ich spielte mit mir, während ich mit ihr redete.
»Miß Graves. Hier ist Chinaski. Ich hatte Ihnen eine Antwort auf Ihre Vorwürfe wegen meiner vielen Strafzettel vorgelegt. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern.«
»0 ja, wir erinnern uns an Sie, Mr. Chinaski.«
»Ist irgendeine Entscheidung gefällt worden?«
»Noch nicht. Wir melden uns dann bei Ihnen.«
»Na gut. Aber ich habe ein Problem.«
»Ja, Mr. Chinaski?«
»Ich lerne zur Zeit das CP1.« Ich machte eine Pause.
»Ja?« fragte sie.
»Ich finde es äußerst schwierig, ja nahezu unmöglich, diese Tabelle zu lernen, so viel Zeit darauf zu verwenden, wo doch möglicherweise alles umsonst sein wird. Ich meine, ich könnte ja jeden Augenblick aus den Diensten der Post entlassen werden. Es ist nicht fair, von mir unter diesen Bedingungen zu verlangen, daß ich die Tabelle lerne.«
»Schön, Mr. Chinaski. Ich werde den Schulungsraum be- nachrichtigen, daß Sie vom Lernen der Tabellen befreit sind, bis wir eine Entscheidung gefällt haben.«
»Vielen Dank, Miß Graves.«
»Guten Tag«, sagte sie und hängte auf.
Es war ein guter Tag. Und nachdem ich beim Telefonieren mit mir gespielt hatte, entschloß ich mich beinahe, zur Woh- nung Nr. 309 hinunterzugehen. Doch ich wollte das Risiko nicht eingehen. Ich stellte Schinken mit Ei auf den Herd und feierte mit einer Extraflasche Bier.
    8
    Und dann waren wir nur noch sechs oder sieben. Das CP1 war für die anderen einfach zuviel.
»Wie kommst du mit deiner Tabelle zurecht, Chinaski?« fragten sie mich.
»Überhaupt kein Problem«, sagte ich.
»Okay, wie gliedert sich Woodburn Ave?«
»Woodburn?«
»Ja, Woodburn.«
»Hör mal, ich will von dem Zeug nichts wissen, während ich arbeite. Es langweilt mich. Alles zu seiner Zeit.«
    9
    An Weihnachten hatte ich Betty bei mir. Sie steckte einen Truthahn in den Backofen, und wir tranken. Betty hatte schon immer eine Vorliebe für riesige Weihnachtsbäume. Er muß über zwei Meter hoch gewesen sein, und etwa halb so breit, voller Lichter, elektrischer Kerzen, Lametta und ähnlichem Plunder. Wir tranken aus mehreren Flaschen Whisky, bumsten, aßen unseren Truthahn, tranken weiter. Der Nagel im Baumständer war locker, und der Ständer war für den Baum nicht groß genug. Ich stellte ihn immer wieder senkrecht hin. Betty streckte sich auf dem Bett aus, war weg. Ich saß in meinen Unterhosen auf dem Boden und trank. Dann streckte ich mich aus. Machte die Augen zu. Etwas weckte mich auf. Ich öffnete die Augen. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich der riesige Baum mit seinen heißen Glühbirnchen in meine Richtung neigte und wie der spitzige Stern wie ein Schwert auf mich zukam. Ich wußte nicht recht, was los war. Es sah aus wie das Ende der Welt. Ich konnte mich nicht rühren. Die Arme des Baumes schlugen sich

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