Der Mann ohne Vergangenheit
die Besatzung springen und noch dazu in die richtige Richtung.
Aber selbst der tüchtigste Sonnianer kann nicht alles vorhersehen. Vor vier Jahren arbeiteten Station drei, vier und acht auf einem großen ‚Führer’ – die Sonnenflecken sind wie Pole bei einem Magneten, sie treten immer paarweise auf, und wir nennen den östlichen Sonnenflecken den ‚Führer\ den westlichen den ‚Gefolgsmann’ –, als das Merkurobservatorium bemerkte, daß der Führer rasch kleiner wurde.
Bis es dem Observatorium dämmerte, was vor sich ging, war der Sonnenflecken auf die Größe von Polen zusammengeschrumpft. Das Patrouillenschiff, das zur Aufnahme der Besatzungen ausgesandt wurde, kam zu spät an. Der Sonnenfleck war verschwunden. Man vermutete, die Stationen hätten versucht, zum ‚Gefolgsmann’ zu gelangen und sich irgendwo an seiner Fünftausenderlinie niederzulassen.
Die Acht schaffte es auch – mit Müh und Not. Glücklicherweise hatte sie im obersten Bereich des Führers gearbeitet, und als der Flecken unter ihr verschwand, mußte sie auf den Sonnenäquator zutreiben. Während des Abtreibens hantelte sie sich mit den Lateraldüsen zum Gefolgsmann zurück, und schließlich erreichte sie dessen Südspitze.“
„Und was war mit den anderen beiden Stationen?“ fragte Alar.
„Keine Spur.“
Der Dieb zuckte im Geiste die Schulter. Sich auf einem Solarion zu betten, war nicht dasselbe, als sich auf den grünen Bänken von La Paz niederzulassen. Er hatte sich darüber nie irgendwelchen Illusionen hingegeben. Vielleicht hatte das Gehirn die Möglichkeiten seines Überlebens im Sonnensystem lediglich nach der kalten Statistik beurteilt.
Der Kapitän ging vom Leuchtschirm auf ein Metallschränkchen zu, das an der gegenüberliegenden Wand angeschraubt war. Er drehte den Kopf und sagte über die Schulter zurückgewandt: „Ein Glas Schaum, Doktor?“
Alar nickte. „Ja, bitte.“
Der Kapitän öffnete den Türschnapper, fischte in den Fächern herum und kam mit einer Plastikflasche in der Hand zurück. In der anderen Hand hielt er zwei Aluminiumbecher.
„Es tut mir leid, daß ich Ihnen keinen Wein anbieten kann“, sagte der Kapitän, als er zurückkommend die Kabine durchquerte, und stellte die Flasche und Becher auf ein kreisrundes Tischchen. „Dieser Schaum hat keinen Pfiff, aber er ist kalt, und das ist an einem Ort wie diesem hochwillkommen.“ Sein Ton klang leicht ironisch. Er schenkte zwei Becher voll, indem er die Flasche zusammenpreßte und die Flüssigkeit in einem cremigen Band herausdrückte, das sich langsam in den Bechern ansammelte. Dann beförderte er die Flasche in den Kühlbehälter zurück. Das Türchen warf er mit einer Streifbewegung seiner Riesentatze zu.
Alar hob den Becher und kostete das Gebräu. Es hatte einen scharfen Zitronengeschmack, war kalt und angenehm.
„Ich habe das vorher nie gekostet“, sagte der Dieb. „Es ist köstlich.“ Er war sich nicht sicher, aber er schien sich zu erinnern, es schon früher gekostet zu haben. Das war möglicherweise eine bloße Ähnlichkeit mit einem der allgemein verbreiteten Erfrischungsgetränke, die er in den vergangenen fünf Jahren zu sich genommen hatte. Doch mochte es auch einen anderen Grund haben …
Der Kapitän leckte sich die Lippen. „Ich habe unbegrenzte Mengen davon, ich trinke es oft, und es wird mir nie über.“ Er blickte in seinen Becher. „Ich habe Kisten davon in meinem Quartier. Kleine entwässerte Pillen. Wenn eine Flasche leer ist, werfe ich bloß eine Pille hinein, spritze etwas Trinkwasser auf und lasse es kalt werden. Dann …“ – er schnippte mit den Fingern – „… habe ich wieder einen Vorrat.“ Er sprach von seinem Schaum so feierlich, wie er zuvor die Arbeitsweise des Solarions beschrieben hatte.
„Ich nehme an, Sie haben sich über die Geschichte unserer Stationen unterrichtet“, sagte Kapitän Andrews plötzlich. Er deutete auf einen röhrenförmigen Sessel für Alar und schob mit dem Fuß für sich selbst einen anderen an den Tisch.
„Gewiß, Kapitän.“
„Gut.“
Alar hörte unter der Bündigkeit von Frage und Kommentar einen Unterton heraus. Sonnianer wollten nicht an die Vergangenheit erinnert werden. Die Vergangenheit war zu morbide. Von den siebenundzwanzig teuren Solarions, die man in den vergangenen zehn Jahren eines nach dem anderen zur Sonne geschleppt hatte, waren noch ganze sechzehn übrig. Das durchschnittliche Lebensalter einer Station betrug etwa ein Jahr. Die Besatzung wurde
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